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Vielleicht stammt Ihre Betrugs-SMS von diesen Callcenter-Sklaven

von Thomas Fischermann
Die Zeit vom 30.04.2025

Inhalt: Reportage über die profitableste Branche des internationalen Verbrechens: den Trickbetrugs über Telefon und Internet. Im vom Bürgerkrieg zerstörten Niemandsland zwischen Thailand und Myanmar werden 120.000 verschleppte Menschen unter Androhung von Folter dazu gezwungen, in einem arbeitsteilig und professionell organisierten Schichtsystem mit hoher Spezialisierung in gefängnisähnlichen Betrugszentren wohlhabende und einsame Menschen um ihr Geld zu bringen.

Sie sehen hier den reinen Text in der anonymisierten Form für die Jury. Bilder, Layout oder multimediale Umsetzung sind beim Deutschen Journalistenpreis kein Bewertungskriterium. Allein das Wort zählt. Tabellen und Grafiken werden in einem separaten PDF zugänglich gemacht.


Vielleicht stammt Ihre Betrugs-SMS von diesen Callcenter-Sklaven

Internationale Trickbetrüger arbeiten in professionellen Scam-Centern. Viele Täter werden in riesigen asiatischen Gefängnisstädten festgehalten. Einblicke in ein gewissenloses Geschäft

Am schlimmsten findet sie es, wenn ihre Opfer in Tränen ausbrechen. Wenn sie flehen: Gib mir mein Geld zurück, meine Rente, mein Haus, meine Rücklagen für die Krebsbehandlung! Aber zu ihrem Job gehört nun mal, das Spiel der Täuschung niemals aufzugeben. Ihren Gesprächspartnern am Telefon vorzuspielen, eine Person ihrer Träume zu sein, eine wohlhabende junge Frau aus Thailand, Estland oder Miami, bis sie sie am Ende um ihr Vermögen bringt. "Es tut mir ja leid für so einen Mann", sagt sie, "aber eigentlich weiß ich nicht mal, wer er ist. Ich habe vielleicht sein Foto gesehen. Ich kenne die allernötigsten Daten über ihn."

Kalaia ist eine junge Frau aus Myanmar, Mitte zwanzig. Ihr wirklicher Name soll nicht genannt werden; sie sagt, ihr drohe der Tod, falls herauskomme, dass sie mit einem Journalisten über ihre Arbeit gesprochen habe. Es ist ja kein gewöhnlicher Job: Kalaia arbeitet in einem Geschäftszweig des internationalen Verbrechens, der nach Erkenntnissen von Kriminalforschern in den vergangenen Jahren einer der profitabelsten überhaupt geworden ist.

Mit Trickbetrug per Telefon und Internet werden nach einer Schätzung des GASA-Instituts in Den Haag, das solche Formen der Kriminalität erforscht, mehr als eine Billion US-Dollar jährlich erbeutet. Wenn das stimmt, entspricht das dem doppelten geschätzten Umsatz des internationalen Drogengeschäfts. Allein in Deutschland, Österreich und der Schweiz will die Organisation für das Jahr 2024 Trickbetrug-Verluste von fast 14 Milliarden US-Dollar ermittelt haben.

Kalaia arbeitet in einer Herzkammer dieses lukrativen Verbrechens: Sie ist dafür zuständig, neue Opfer zu finden. Sie ruft Telefonnummern in den USA, Malaysia oder Singapur an, und dann tut sie so, als sei sie falsch verbunden. "Willst du essen gehen? – Oh, Entschuldigung, falsche Nummer!", so beginnen solche Telefonate, und dann verwickelt sie ihr Gegenüber doch in ein Gespräch. Kalaias Englisch ist fließend, man hört sogar einen antrainierten amerikanischen Akzent heraus.

Ihr Profilbild in verschiedenen Telefon- und Messenger-Apps zeigt eine andere attraktive junge Frau, nicht sie selbst. "Ich bekomme die Leute schnell dazu, dass sie mir zum Beispiel über ihre Arbeit erzählen", sagt sie. Das entspricht auch den Zielvorgaben ihrer Chefs. Bei den ersten paar Anrufen soll sie herausbekommen: Beruf, genauer Wohnort, Familienstand.

Und dann geht es weiter mit wochen- oder monatelangen Gesprächen, in denen Freundschaft geschlossen, geflirtet und gelacht wird. Bis das Opfer der Anruferin vertraut und sein Geld überweist: für die gemeinsame Zukunft mit der schönen Frau aus der Ferne oder für die Anlage in einem vermeintlich lukrativen Investment. "Männer sind ja so einfach zu belügen", sagt Kalaia und wirft einen augenrollenden Kennerblick rüber. "Vor allem diese einsamen, älteren Männer in den USA. Aber ich habe auch kein Problem damit, mit Deutschen Kontakt zu knüpfen. Bei euch sprechen ja alle gut Englisch."


Die meisten Textchatter sind Männer, die nur so tun, als wären sie eine Frau

Als Treffpunkt für das Gespräch hat Kalaia eine Wellblechbaracke am Stadtrand der Kleinstadt Mae Sot vorgeschlagen, wo Thailand an den Nachbarstaat Myanmar grenzt. Hier wird man nicht so leicht beobachtet, und in der Hütte wohnen offenbar Verwandte. Mit professionellem Interesse untersucht sie das iPhone ihres Besuchers, auf dem in den vergangenen Wochen merkwürdige Nachrichten eingegangen sind. Sie stammen ziemlich offensichtlich von Betrügern, die in ihrer Branche arbeiten: von einer jungen Frau namens "Anna", die vorgeblich ein glamouröses Leben in Miami führt und behauptet, sich für die schönen Instagram-Fotos [von Medium-Reporter] zu interessieren.

"Ja, genau", sagt Kalaia, "und vermutlich ist es bei jeder Nachricht eine andere Person, die Ihnen schreibt." Die Arbeit professioneller Trickbetrüger finde in Schichten statt, in Großraumbüros mit Hunderten von Kollegen, die mit moderner IT-Unterstützung arbeiten. Wer als Täter in einen Chat einsteige, könne das "Was bisher geschah" übersichtlich am Bildschirm ablesen: in einer maßgeschneiderten Softwarelösung, in der man WhatsApp, Telegram, Instagram oder Facebook gleichzeitig benutzen kann, in der es Übersetzungshilfen gibt und ChatGPT-Formulierungsassistenten ganz nach Bedarf. "Die meisten Textchatter sind Männer, die nur so tun, als wären sie eine Frau", sagt Kalaia. "Ab und zu muss ich aber ans Telefon gehen, damit sie meinen, dass sie es wirklich mit einer Frau zu tun haben."

Kalaia hat sich auf dieses Interview eingelassen, weil sie das Geschäft demnächst verlassen will. Sie sagt, die Betrügerei sei ihr unangenehm geworden. Bei der Arbeit sei sie nicht mal Freundschaften eingegangen. "Wem soll man dort trauen? Das sind doch alles Betrüger." Und sie habe genug Geld zurückgelegt, um für einen neuen Start in die thailändische Hauptstadt Bangkok zu ziehen. Sie spricht von einigen Tausend Euro, umgerechnet, keine großen Beträge aus westlicher Sicht. In Bangkok wolle sie irgendwas mit Tourismus anfangen. In Myanmar hatte sie früher mal Ingenieurwissenschaften studiert, aber das Studium musste sie abbrechen und vor dem Bürgerkrieg fliehen. Es wieder aufzunehmen, dafür sieht sie keine Möglichkeit.

Die junge Frau kann das: einfach aufhören. Ihre Chefs erlauben ihr, wegzugehen. Vielen anderen, die gemeinsam mit ihr in der Trickbetrugsindustrie schuften, ist das verwehrt. Sie dürfen ihre Arbeitsplätze nicht verlassen, jene gesichtslosen Bürokomplexe, die wenige Kilometer westlich von der 50.000-Einwohner-Kleinstadt Mae Sot liegen, unmittelbar hinter der Grenze zum Nachbarland Myanmar.

Wo genau diese Grenze verläuft, ist rings um Mae Sot nicht immer ganz klar. Am Stadtrand gibt es eine flaggengeschmückte "Brücke der Freundschaft" mit Zöllnerhäuschen, über die Autos und Lastwagen fahren. Aber man kann von Thailand aus auch unter der Brücke durchlaufen, dann stößt man auf einen Straßenmarkt für Whisky, Zigaretten und Trockenfische, und dieser liegt bereits in Myanmar. Händler und Kunden reichen Geld und Waren über symbolisch ausgelegten Stacheldraht hinweg. Durch den schmalen Moei-Grenzfluss kann man stellenweise einfach waten, lokale Transportdienstleister bieten den gesetzwidrigen Grenzübertritt über Schleichwege für umgerechnet 14 Euro an.

Auf der anderen Seite betritt man gesetzloses Bürgerkriegsgebiet, in dem vor wenigen Monaten noch Streubomben gefallen sind. Die Hoheit haben schwer bewaffnete Soldaten, die mal zum Regime, mal zu Revolutionstruppen, mal zu abtrünnigen Warlords zu rechnen sind. In dieser unübersichtlichen Zone sind in den vergangenen Jahren jene Orte entstanden, in denen Kalaia vom Großraumbüro aus ihre Anrufe tätigt: Gewerbegebiete voller Bürokomplexe mit verspiegelten Fenstern, umgeben von Zäunen und Mauern.

"Schwe Kokko" heißen sie zum Beispiel, die Stadt des goldenen Regenbaums, oder einfach "KK Park". Die meisten sind einfach Gruppen von Bürogebäuden, wie sie auch in einem Gewerbegebiet in Frankfurt-Rödelheim stehen könnten; eine Ausnahme bildet eine bizarre Vergnügungsstadt nördlich von Mae Sot, die ein ambitionierter chinesischer Baukonzern komplett mit Casinos, Luxushotels und Parkanlagen errichtet hatte. Sie steht wegen des Bürgerkriegs weitgehend leer – offenbar nutzt fast bloß das Trickbetrugs-Business dort Räume.


Weil die Täter selbst betrogen wurden, werden sie hier »Victims« genannt – Opfer

Scam-Center, also Betrugszentren, werden diese Gebäudegruppen in der Gegend genannt. Die Bezeichnung wird aber nicht den Ungeheuerlichkeiten gerecht, die sich darin abspielen. Die große Mehrzahl der Menschen, die dort arbeiten, ist verschleppt worden, aus Thailand, China, von den Philippinen, sogar aus fernen Ländern wie Nigeria oder der tschechischen Republik. 120.000 Menschen würden in diesen Zentren in Myanmar festgehalten, hat die UN-Menschenrechtskommission vor zwei Jahren geschätzt, eine fast unglaublich wirkende Zahl, die aber von NGOs und Polizeibehörden ähnlich hoch geschätzt wird.

Die Verschleppten werden in dieser Gegend "Victims" genannt: Opfer. In der Regel haben sie auf ein Inserat auf Facebook oder Telegram geantwortet, wo ihnen ein gut bezahlter Kundendienstjob im nördlichen Thailand angeboten wurde ("Sprechen Sie Englisch, und können Sie mit einem Computer umgehen?"). Nach der Ankunft in Bangkok wurden sie in einem Van nach Mae Sot und bei Nacht von Menschenschmugglern über den Grenzfluss gebracht.

Wenn man sich die Gebäude der Scam-Center näher anschaut, erkennt man, dass das keine normalen Bürogebäude und Schlafstätten für Arbeitskräfte sind. Vor vielen Fenstern sind Gitter angebracht. Man sieht den Stacheldraht auf den Mauern, Ausguckposten für Wächter, Soldaten an den Ausgängen.

"Und während wir hier sprechen, werden schon wieder neue Arbeitskräfte angeliefert", sagt Chaoxiang Fan. Er ist ein Mann Ende 20, und auch er will nur unter der Bedingung sprechen, dass weder sein wahrer Name noch persönliche Details über ihn veröffentlicht werden. "Ich bin kein Gangster!", schickt er dem Gespräch voraus; dass sein Oberkörper fast schwarz vor lauter fein gezeichneten Tätowierungen ist, sei eine Modefrage.

Chaoxiang ist halb Burmese, halb Chinese – ideale Voraussetzungen in diesem Geschäft. Wer eine myanmarische Staatsbürgerschaft besitzt, darf in diesen Städten nicht gegen seinen Willen festgehalten werden – das gilt überall in den Scam-Centern, offenbar eine Übereinkunft der Betreiber mit den herrschenden Militärtruppen. So kann Chaoxiang hier als ein sogenannter "Freiwilliger" arbeiten: zum Geldverdienen über den Fluss, für ein paar Schichten, ein paar Nächte, dann wieder zurück. Auch Kalaia, die junge Frau, die am Betrugstelefon arbeitet, kann wegen dieser Sonderregelung von ihren Chefs nicht festgehalten werden.

Und die Bosse hier sind Chinesen: Das Scamming-Geschäft, wie es in Myanmar betrieben wird, ist nach Erkenntnissen von Kriminalforschern ursprünglich auf dem chinesischen Festland in der Glücksspielstadt Macau entstanden, bevor es sich hierher ausgebreitet hat. Chaoxiang hatte sich vor ein paar Jahren als Übersetzer für diese chinesischen Bosse angeboten, weil er neben Chinesisch noch etliche weitere Sprachen spricht: zum Beispiel Thai und Englisch. Er bleibt vage in der Frage, welche Aufgaben er im Lauf der Zeit übernommen hat, wie seine Karriere in unterschiedlichen Abteilungen des Scam-Geschäfts ablief. Aber je länger man mit ihm spricht, desto detaillierter mag er Auskunft zu den Interna geben. Und desto merkwürdiger werden die Begriffe, mit denen er das Geschäft beschreibt.


Der Workflow der Betrüger ist effizient organisiert wie in einem Konzern

"Kunden" nennt er die einsamen Menschen, die per Telefon und Internet betrogen werden, denen ihr Geld von einer vermeintlichen Seelenverwandten oder Liebhaberin abgeschwatzt wird. "Kundendienst" heißen die Leute, die mit solchen Betrugsopfern in laufendem Kontakt bleiben, und wer frische Kunden anspricht, arbeitet in der "Kundenakquise". "Manager" sind Leute, die die Arbeit einteilen, die zum Beginn einer Schicht die Handys und Computer auf den Schreibtischen deponieren und Zielvorgaben machen ("mindestens 30 Kundenkontakte pro Tag"). Ihre Vorgesetzten, die "Bosse", lassen sich in den Großraumbüros so gut wie nie blicken.

Chaoxiang beschreibt das alles wie das Innenleben eines Konzerns aus einer schlimmen dystopischen Fantasie. Der Workflow der Betrüger ist effizient organisiert. Es gibt Teams, die neue Telefonnummern und Internetaccounts für die Kontaktaufnahme identifizieren, kategorisiert nach "Normalbürger", "Wohlhabend" und "Boss". In anderen Abteilungen arbeiten Spezialisten, die attraktive Lebensgeschichten erfinden und aufwendig gefälschte Internetprofile anlegen.

Es gibt Teams von Textchattern, die von Beratern in Landeskunde ausgebildet worden sind ("Wo geht man in Miami essen?") und von Psychologen, die sich mit den Schwachstellen der menschlichen Seele auskennen. Im Rahmen der betrieblichen Fortbildung wird angeboten, mehr über die Interessen potenzieller Betrugsopfer in fernen Ländern zu lernen: Golfspielen, feine Küche, Autos. "Es geht darum, das ›Mindset‹ unserer Kunden zu kontrollieren", sagt Chaoxiang; er benutzt den englischen Begriff.

Chaoxiangs Schilderungen, die sich mit den Erkenntnissen von Kriminalisten und Menschenrechtsgruppen decken, ergeben das Bild einer Branche, in der sich jedes Team, jedes Subunternehmen auf bestimmte Spielarten des Trickbetrugs spezialisiert. Neben der vorgespielten Freundschaft und Liebe gibt es auch die bedrohliche Variante, bei der vorgebliche Polizisten und Geldwäsche-Ermittler bei den Betrugsopfern anrufen: "Sie sind des Finanzbetrugs verdächtigt, lassen Sie uns umgehend Ihre Bankkonten einsehen!"

Es gibt Betrugsvarianten, bei denen internationale Überweisungen angeblich fehlerhaft auf dem Konto der Betrugsopfer gelandet sein sollen. Die Betrüger rufen dann an, geben sich als Banker aus und bitten um eine dringliche Rücküberweisung. Es gibt Maschen rings um Glücksspiele und Sportwetten. Einige Scammer unterhalten gefälschte Webseiten für Krypto-Investitionen, wo die "Kunden" ein paar Wochen lang hocherfreut Gewinne einstreichen, um dann ihr gesamtes Erspartes zu investieren – und zu verlieren. Die Betrugsfirmen unterhalten IT-Abteilungen, sie beschäftigen Geldwäsche-Spezialisten. Human-Resources-Mitarbeiter schalten auf der ganzen Welt Inserate, um die nächsten Menschen in vermeintlich gut bezahlte Callcenter-Jobs zu locken.

Chaoxiang erzählt nicht ohne Stolz von der Professionalität solcher Operationen, über die man sich auch in den Untiefen einschlägiger Recruitment-Kanäle auf dem Nachrichtendienst Telegram informieren kann. Dort werden ganz offen Mitarbeiter – Freiwillige – für die Betrugsindustrie gesucht. Und man erfährt zum Beispiel, dass zu den bestbezahlten Jobs – umgerechnet ab 5.000 Euro im Monat – das sogenannte "Modeling" gehört. Da arbeiten Frauen und Männer, die Videocalls mit besonders aussichtsreichen Betrugsopfern führen. Chaoxiang beschreibt, wie dies in einer Art Fernsehstudio geschehe. Das Innere luxuriöser Wohnhäuser sei dort nachgebaut, komplett mit Swimmingpool und Sportwagen in der Garage. Ebenso der seriöse Arbeitsplatz bei einer Finanzfirma, komplett mit im Hintergrund herumlaufenden Kollegen. Die Opfer sollen glauben, sie hätten es mit einer wohlhabenden Person zu tun – die sich bestens auskennt in der Welt des Investierens.

Dass die Branche mit der Zeit geht, sieht man an einer neuen Jobkategorie, die erst in den vergangenen Wochen hinzugekommen ist: "KI-Models gesucht" steht da. Offenbar wird mit künstlicher Intelligenz probiert, die schönen Bilder und Videos für den Betrug digital zu erzeugen. Dafür muss man die Computer vorher aber mit Fotos und Filmaufnahmen echter Menschen füttern, "KI-Models" eben. Weil in der Branche inzwischen jeder von den Verschleppungen und Folterungen der "Opfer" weiß, werden die "Freiwilligen" in solchen Stellenanzeigen beruhigt: "Wenn Du die Zielvorgaben nicht erreichst, gibt es keinen Druck!", steht da, oder: "Wir ziehen Deinen Pass nicht ein!". Das kann man dann glauben oder nicht.

Interessanterweise stehen die meisten Jobs, die man in den Scam-Centern ausüben kann, im Grundsatz beiden Kategorien von Mitarbeitern offen: den "Freiwilligen" und den versklavten "Victims". In den Großraumbüros arbeiten sie Seite an Seite. Wer erfolgreich viele Menschen betrügt, kann sich zu vergleichbaren Gehältern bewerben, aufsteigen, Karriere machen, wohlhabend werden. In manchen Scam-Centern stehen ihnen Läden mit feinen Whiskys und burmesischen Zigarren offen, oder es gibt einen Supermarkt voller Delikatessen. Gegen Cash kann man in diesen Städten Opium, Ketamin und Crystal Meth kaufen, ins Kino gehen oder in Karaoke-Bars voller zwangsarbeitender Prostituierter.

Wer als hierher verschleppter Mensch aber den Wunsch äußert, wieder zu gehen, ja wer auch bloß Kontakt mit der Außenwelt aufnehmen will, wird grausam bestraft. "Sie schlagen sie", sagt Kalaia, die junge Scammerin. Sie bestätigt, was hier alle erzählen – die Aussteiger, die wenigen entkommenen Opfer, Polizisten und Menschenrechtsorganisationen. Scammer, die ihre Quoten nicht erfüllen, werden mit Schlagstöcken malträtiert; Scammer, die gegen Regeln verstoßen, werden in Folterräume geschleift. In Mae Sot kursieren schreckliche Videos solcher sadistischen Behandlungen mit Elektroschocks, Verbrennungen und dem Brechen von Gliedmaßen. Kalaia sagt: "Und wenn sie wegrennen wollen, bringen sie sie um."

Eine teuflische Mischung führt dazu, dass diese Verbrechen quasi unter aller Augen stattfinden und trotzdem selten etwas dagegen getan wird: Diese Gebiete sind eben Niemandsland; die für die Territorien zuständigen Militäreinheiten werden offenbar finanziell am Geschäft der Chinesen beteiligt, der Nachbarstaat Thailand sieht es nicht als seine Aufgabe an, sich jenseits der Grenze in den Bürgerkrieg einzumischen. Nur hin und wieder greifen Sicherheitskräfte ein, etwa im Januar 2023, als der chinesische Fernsehschauspieler Wang Xing in die Grenzregion verschleppt wurde. Da schaltete sich am Ende sogar KP-Chef Xi Jinping ein.

Thailand kappte anschließend vorübergehend die Strom- und Internetverbindungen über den Moei-Fluss, und mit den Militärs auf der anderen Seite vereinbarte es die Freilassung Tausender Gefangener. Von Dauer sind solche medienwirksamen Aktionen nicht. Die meisten dieser Freigelassenen aus etwa 30 Ländern wurden von den thailändischen Behörden in ihre Heimat zurückgeschickt; einige Hundert wurden zuletzt streng abgeschirmt in eigens errichteten Lagern untergebracht.

Die Zahl dieser Freigelassenen fällt insgesamt kaum ins Gewicht. Von den verantwortlichen Gangstern wurde niemand festgenommen. Heute dringt über die Mauern der Scammer-Städte das ohrenbetäubende Brummen riesiger Dieselgeneratoren, woraus sich schließen lässt: Strom aus Thailand braucht man dort nicht mehr. Mit dem Internet gibt es sowieso keine Probleme. Für den Notfall sind zahllose Antennen des Satellitennetzwerks Starlink auf den Dächern angebracht.

Wer über die Zustände jenseits der stacheldrahtbewehrten Mauern berichten möchte, ist auf die wenigen Menschen angewiesen, die sich dort frei bewegen können – und die bereit sind, ein paar Details aus dem Innenleben zu berichten. Mutige Menschen wie Thiha zum Beispiel, ein Mann in seinen frühen Dreißigern. Auch sein Name wurde geändert. Er ist Burmese, ein "Freiwilliger". Seit mehr als vier Jahren arbeitet er in einem der Zentren am Moei-Fluss, und er hat dort eine kleine Karriere gemacht. Seine Spezialität sind Videocalls mit einsamen, wohlhabenden Frauen. "Ich bin schön und beherrsche die Sprache der Liebe", feixt er, "ich kann es dir beibringen, wenn du willst. So schwierig ist das auch gar nicht. In der Liebe wird bekanntlich sowieso viel gelogen."

Thiha schickt ein Tränen lachendes Smiley hinterher, dieses Interview findet über einen verschlüsselten Messengerdienst statt. Ursprünglich wollte er nachts über den Fluss auf die thailändische Seite kommen, so wie die anderen Gesprächspartner, die für diesen Artikel Auskunft erteilt haben. Als "Freiwilliger" dürfte er das ja. Aber im letzten Moment habe ihn sein Manager zu einer Sonder-Nachtschicht verdonnert, weitere 13 bis 15 Stunden also. "Ich bin müde", schreibt er. Der Manager zahlt ein kleines zusätzliches Trinkgeld aus, 1.500 Baht (40 Euro) extra, wenn Thiha während der Schicht auf Pausen verzichtet.

Anfangs tippt er auf seinem Handy, dann herrscht einige Minuten lang Ruhe, bis er wieder schreibt. "Wir kommunizieren jetzt über meinen Computer am Arbeitsplatz, das fällt den Aufsehern nicht auf, wenn ich hier tippe. Ich sitze mit mehreren Hundert Leuten in einem Raum."

Thiha sagt, dass er sich zum Schichtbeginn zunächst über die Wetterbedingungen in Venezuela und England erkundige. Da säßen die nächsten Betrugsopfer, mit denen er gleich Kontakt haben werde. "Ich hoffe, dass wir sicher sind und mir dieses Gespräch keinen Ärger bereiten wird", schreibt er, aber weiterschreiben will er unbedingt. Wie alle anderen Gesprächspartner ist er nicht begeistert von seinem Job – "aber ich hasse ihn auch nicht, es ist eben ein Job". In so einem Scam-Center fühle er sich sogar, als sei es der sicherste Ort auf der Welt. Wenn er in seine Heimatstadt in Myanmar zurückkehre, würde er vielleicht von einer Bombe getroffen oder zum Wehrdienst eingezogen.

Ja, aber sind dies keine Orte, an denen Menschen gefoltert werden? "Ja, es gibt Folter hier", antwortet Thiha knapp und erzählt dann von einem Kollegen aus einem afrikanischen Land, mit dem er sich angefreundet habe und der solche Dinge zu erdulden habe. "So viele sind hierhin gegen ihren Willen verschleppt worden", tippt er, "es macht mich sehr traurig, das zu sehen." Haben diese Leute, seine Kollegen, denn irgendeine Chance, dass sie diesen Ort jemals wieder verlassen? Oder werden sie arbeiten, bis sie umgebracht werden?

"Hoffnung gibt es so gut wie keine", antwortet Thiha. "Ich tue für sie, was ich kann. Ich muntere meine Kollegen auf. Manchmal bringe ich ihnen was mit von draußen, ein Brot zum Beispiel. Ich schenke es ihnen."


Bildunterschriften

Hinter Gittern und Stacheldraht werden mehr als hunderttausend Menschen in Myanmar gefangen gehalten

Chinesische Verbrechersyndikate zwingen sie zur Arbeit im hochprofitablen Trickbetrug-Geschäft

Wer sich wehrt oder mit der Außenwelt Kontakt aufnimmt, wird geschlagen und gefoltert


Autoren-Hinweise

In diesem Beitrag ging es mir darum, das Thema des "Scamming-Business" in Asien – das immer mal wieder in Geschichten über die vielen Opfer und mal aus Nutzwertperspektive ("So vermeiden Sie Online-Betrug") geschildert worden ist – aus einer neuen, sozusagen betriebswirtschaftlichen Perspektive zu zeigen. Dafür war es notwendig, Kontakt zu echten Tätern aufzunehmen, nicht einfach nur verschleppten Opfern. Hat lange gedauert, ist für diesen Beitrag aber schließlich gelungen.