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Stirb leise

von Peter Burghardt
Süddeutsche Zeitung vom 10.07.2024

Inhalt: Beim Einsturz der Francis Scott Key Brigde in Baltimore kamen sechs lateinamerikanische Arbeiter ums Leben, weil sie als einzige nicht vor dem Einsturz gewarnt wurden. Der Artikel beschreibt die prekäre Situation von Arbeitsimmigranten in den USA, von deren Arbeitskraft das Land abhängig ist, die aber weder Rechte haben noch Wertschätzung erfahren.

Sie sehen hier den reinen Text in der anonymisierten Form für die Jury. Bilder, Layout oder multimediale Umsetzung sind beim Deutschen Journalistenpreis kein Bewertungskriterium. Allein das Wort zählt.


Stirb leise

Es sind lateinamerikanische Wanderarbeiter, die die Vereinigten Staaten von Amerika am Laufen halten. Und manchmal sterben sie dabei, wie beim Einsturz der Francis Scott Key Bridge in Baltimore. Interessiert nur keinen.

Jesus Campos parkt seinen Pick-up am Ufer, da hat er alles im Blick. Hätte er nicht zufällig die Schicht gewechselt, wäre er jetzt sehr wahrscheinlich auch tot. Er starrt auf die Reste der Francis Scott Key Bridge, die sich mal gut 2600 Meter lang über den Hafen von Baltimore spannte, vierspurig. Geblieben sind Stümpfe aus Stahl und Beton. Jesus Campos deutet auf das Schiff, das Wrack liegt mittlerweile hinten am Dock. „El asesino“, sagt er – der Mörder.

Baltimore liegt an der Ostküste der USA, doch alle Opfer dieser Katastrophe kamen aus Lateinamerika, Latinos oder Hispanics werden sie hier genannt. Es sind die Menschen, die im Land der unbegrenzten Möglichkeiten die Drecksarbeit erledigen, Leute wie der Straßenarbeiter Jesus Campos aus El Salvador, der das weiche Spanisch Zentralamerikas spricht. Er ist heilfroh, dass er noch lebt.

„Brawner Builders“ steht auf seiner Cap, nur wenige Tage vor dem Unfall ließ er sich von seiner Baufirma aus Maryland auf eine Baustelle in einen Tunnel versetzen. Reiner Zufall. Absolut kein Zufall aber ist es, dass das Unglück von Baltimore ausschließlich Lateinamerikaner traf. Sechs von ihnen stürzten in den Tod, als der Containerfrachter MV Dali am 26. März um 1.29 Uhr nachts einen Pfeiler rammte und die Francis Scott Key Bridge zusammenklappte wie ein Spielzeugbrückchen.

Campos kannte alle Toten, sie hatten zusammen geschuftet, gegessen, gelacht: Alejandro Hernández Fuentes, Dorlian Ronial Castillo Cabrera, Maynor Yasir Suazo Sandoval, Miguel Ángel Luna González, Carlos Daniel Hernández Estrella, José Mynor López. Wie er hatten sie sich auf den Weg in den Norden gemacht, aus Mexiko, Guatemala, Honduras und El Salvador. Einer aus der Gruppe war als Kind von Mexikanern in der Nähe geboren worden, aber in Mexiko aufgewachsen, die anderen besaßen keinen amerikanischen Pass.

Der Einsturz der Brücke war ein Unglück, und doch erzählt der Tod der sechs Männer viel über die USA – und die Abgründe der Globalisierung. Wie kann es sein, dass ein Linienschiff mit der Flagge Singapurs und einer Besatzung aus Indien bei der Abreise Richtung Sri Lanka eine nordamerikanische Autobahnbrücke zum Einsturz bringt? „Ist doch unvorstellbar“, sagt Jesus Campos leise.

Die Key Bridge gehörte zur Interstate 695, Zehntausende Autos und Lastwagen fuhren Tag für Tag auf dieser Stadtautobahn hin und her. Entsprechend oft rückten die Bautrupps an, nächtelang hat Campos da oben den Asphalt geflickt. Er ließ sich auch mal in der Hebebühne an den Seiten herunterfahren, Campos zeigt ein Foto auf seinem Smartphone, er mit Leuchtweste, Helm, Gurt, freischwebend, 56 Meter über dem Wasser. Schwindel können sich Leute wie er nicht leisten, wenn Amerikas Verkehr rollen soll.

Ohne Latinos würde das Land stillstehen, erst recht ohne jene, die als „illegal“ gelten. Die Arbeitsbedingungen sind oft miserabel, die Löhne bescheiden – aber sie sind trotzdem zehnmal so hoch wie zu Hause. Weit mehr als 40 Millionen Einwohner der USA sprechen Spanisch, trotzdem verschärft US-Präsident Joe Biden an der Südgrenze auf Druck der Republikaner im Wahlkampf ständig die Regeln. Und Donald Trump? Will unerwünschte Immigranten in Massen rauswerfen, wenn er wieder Präsident werden sollte. Er nennt sie Dealer, Terroristen oder Tiere, sie würden „das amerikanische Blut vergiften“.

Jesus Campos setzt sich. Das trübe Wasser plätschert gegen die Felsen, Möwen kreischen, Kräne hieven letzte Trümmer aus der Bucht. Trump? Er winkt ab. „Trump mag uns nicht“, sagt er. Andererseits sei der Sprit billiger gewesen, als er Präsident war. Campos ist 50 Jahre alt, ungefähr so alt wie die Key Bridge. Vor 19 Jahren verließ er sein Heimatdorf bei San Miguel in El Salvador, weil dort die Drogenbanden wüteten. Die USA betrat Campos ohne Papiere, zu Fuß.

Zweifel am amerikanischen Traum kamen ihm schon öfter. Und auch die Angst vor der Drogenmafia zu Hause in El Salvador hat sich bei ihm mittlerweile gelegt. Daheim wirft der autoritäre Präsident Nayib Bukele einfach alle ins Gefängnis, die er für Drogenhändler hält. Es ist die reine Willkür, es kann jeden treffen, aber die Mordrate ging erheblich zurück. Und mit Drogen haben sie ja auch in Baltimore ihre Erfahrungen, hier sind in sechs Jahren fast 6000 Menschen an einer Überdosis gestorben. In dieser Stadt mit ihren 570.000 Einwohnern gab es im vergangenen Jahr 263 Morde, und das galt schon als Erfolg, vorher waren es jahrelang mehr als 300.

„Der amerikanische Traum ist ein Albtraum“, sagt Jesus Campos, während er die Trümmer der Brücke anstarrt. Aber zurückgehen? Amerika ist längst sein Leben, seine Tochter ist hier geboren, sie ist damit automatisch Amerikanerin. Wer würde das aufgeben?

Am Abend des 25. März hatte gerade die Nachtschicht der Kollegen auf der Key Bridge begonnen, gegen Morgen sollten sie fertig sein. Um kurz nach eins wurde die MV Dali im Hafen von Baltimore in die Fahrrinne geschleppt: Baujahr 2015, 300 Meter lang, 4680 Container, Dieselmotoren mit 41.480 Kilowatt Leistung. Das Ziel: Colombo, Indischer Ozean. Der Kapitän versicherte der Hafenaufsicht, das Schiff sei in einem guten Zustand. In Wahrheit aber war auf der MV Dali schon vor der Abfahrt zweimal der Strom ausgefallen.

Um 1.25 Uhr gab es unterwegs den dritten Blackout, um 1.27 Uhr den vierten. Antrieb und Steuerung versagten, der Kapitän funkte Mayday. Ein Anker wurde geworfen, zu spät. Mit 6,5 Knoten, zwölf Stundenkilometern, rammte das Schiff um 1.29 Uhr die Stütze Nummer 17. Ein Kollege rief Jesus Campos frühmorgens an. Da lagen Stücke der Brücke schon im Fluss, andere waren verkeilt mit Containern und dem verbeulten Bug der MV Dali. Die ganze Welt sah die Bilder.

Jesus Campos fragt sich, warum seine Kollegen nicht alarmiert wurden, sie saßen doch alle in Autos, hätten wegfahren können. Er fragt sich auch, was der Inspektor von der Hafenaufsicht auf der Brücke eigentlich getan hat. Er rannte offenbar rechtzeitig weg, nach dem Notruf von der MV Dali waren vier Minuten Zeit. Es war ja früh am Morgen, wenig los – der Verkehr wurde sofort von der Polizei gestoppt. Aber: Der Bautrupp wurde nicht in Sicherheit gebracht, ein unerklärliches Versagen.

Sie alle fielen mit ihren Fahrzeugen in die Tiefe, nur einer konnte sich im Patapsco River retten, der Mexikaner Julio Cervantes, weil sich sein Fenster herunterkurbeln ließ. Die anderen hatten elektrische Fensterheber, die unter Wasser versagten. Niemand von ihnen sei gewarnt worden, sagte ein Anwalt von Julio Cervantes bei einer Pressekonferenz. Cervantes hielt sich an einem Trümmerteil fest, schwimmen konnte er nicht. „Es ist ein Wunder, dass er überlebt hat“, sagte seine Frau dem Sender NBC, sie verlor bei dem Unfall ihren Schwager und ihren Neffen. Immer mal wieder steht das Ehepaar Cervantes hier an der Böschung, schweigend. Spricht man Julio Cervantes an, wie es ihm geht, sagt er nur, er könne im Moment nicht darüber sprechen.

Für Jesus Campos geht das Leben weiter, gerade hat er wieder eine Tagschicht an einer Autobahn hinter sich. Fünf Uhr aufstehen, sechs Uhr anfangen, Belag aufhacken, Teer auftragen, planieren. Vor Kurzem hätte ihn bei der Arbeit fast ein heranrasender Truck von der Straße geräumt. „Wir machen die härtesten Arbeiten, nicht die Amerikaner“, sagt er. „Wir reparieren Amerika. Niemand erkennt das an.“

Früher pflückten Sklaven die Baumwolle, ernteten das Zuckerrohr auf den Plantagen. Die Sklaverei ist abgeschafft, aber es sind bevorzugt lateinamerikanische Wanderarbeiter, die Vorgärten oder Golfplätze mähen und gießen, Trauben und Zitronen pflücken, kochen, waschen, putzen, mauern, bohren. Sie schieben Kinderwagen spazieren, liefern Pakete aus, schleppen Umzugskisten, beziehen Hotelbetten. Sie halten die Vereinigten Staaten von Amerika am Laufen.

Der American Dream oder Sueño Americano, wie das auf Spanisch heißt, treibt sie an, trotz allem, auch wenn das Versprechen vom rasanten Aufstieg letztlich nur für ein paar Auserwählte funktioniert. Alejandro Mayorkas, geboren auf Kuba, ist jetzt Minister für innere Sicherheit. José Hernández, geboren in Mexiko, flog mit dem Space Shuttle ins All. Ronald Acuña, geboren in Venezuela, verdient als Baseballprofi bei den Atlanta Braves in acht Jahren 100 Millionen Dollar. Die große Mehrheit dagegen hält für gut zwanzig Dollar die Stunde zum Beispiel die Straßen für Pendler oder Lkws von Amazon in Schuss.

Am Tag nach dem Unfall bargen Rettungsmannschaften die ersten Leichen aus dem Wasser unter der Francis Scott Key Bridge, nach Wochen die letzte. Natürlich stellt sich Jesus Campos ständig die Frage, wie es seiner Familie gehen würde, wenn er unter den Toten gewesen wäre. Seine Tochter und seine Frau warten mit einer Tüte Chips im Auto, während er darüber redet. Auf 3000 bis 4000 Dollar kommt er im Monat, einen festen Vertrag hat hier fast niemand. Außerdem schickt Campos wie jeder jeden Monat Hunderte Dollar zu Familie nach El Salvador.

Dann steigt er wieder in sein Auto, fährt die Stichstraße runter, weg von der Bucht. An der Kreuzung zur Hauptstraße wehen Fahnen. Es sind die Flaggen der Länder, aus denen die Opfer stammen. Mexiko, Guatemala, Honduras, El Salvador, daneben die US-Flagge. Dazu die Namen der Toten, Porträts, Helme, Stiefel, Rucksäcke, Werkzeugkästen, Blumen, Kerzen. „Te amo“, hat jemand auf eine gelbe Warnweste geschrieben. In Liebe. Daneben wurde ein Pick-up aufgebockt, der den Dienstautos der Brückenmannschaft ähnelt, die Windschutzscheibe geborsten, bedeckt mit Farbklecksen, die aussehen wie Blut.

Dies ist kein Friedhof und kein Schrottplatz, es ist eine Gedenkstätte. Die Idee dazu hatten ein mexikanischer Elektriker, der ebenfalls einst auf verbotener Route über die Grenze kam und schon lang hier lebt: Roberto Márquez wohnt in Dallas, Texas, und stieg sofort in seinen Geländewagen, als er von dem Brückeneinsturz hörte. Nach 22 Stunden war er in Baltimore. „Es war meine Pflicht“, sagt er.

Márquez ist Künstler und malt dort, wo Menschen gewaltsam ihr Leben verloren haben. Er war in der Ukraine, wollte nach Haiti, aber meist geht es um Immigranten. Er fuhr zu der Schule nach Uvalde, wo ein Amokläufer 21 Latinas und Latinos erschossen hatte. Er war in Florida, nachdem ein Betrunkener dort mit seinem Truck gegen einen Bus geprallt war und acht mexikanische Erntehelfer tötete. Überall hinterließ Márquez Bilder. Irgendwer müsse ja an die Toten erinnern, sagt er.

Hinter den Kreuzen hat er Leinwände aufgestellt, eines seiner Wandgemälde sieht aus wie eine etwas andere Version von Picassos „Guernica“. Teile davon wurden inzwischen abgebaut und sollen auch im Baltimore Museum of Industry ausgestellt werden. Gerade hat er mit einem neuen Werk angefangen, er will bald weitermachen, obwohl Unbekannte seine Skizzen zerschnitten haben.

Gegenüber der Gedenkstätte liegt eine Tankstelle mit Imbiss, es riecht nach Brathuhn, Farbe und Benzin, aus einem Lautsprecher dröht Salsa. Die Latinos bleiben meist unter sich, beim Feiern, beim Fußball, beim Arbeiten, Essen, Beten und hier, beim Trauern. Vargas und Márquez haben auch Mahnmale für die sechs Tagelöhner aufgebaut, die vor einem Jahr auf der I-695 von zwei Rasern überfahren wurden. „Die Vergessenen“, steht da nur.

Ein paar Tage nach der Begegnung mit Jesus Campos steht Carlos Suazo am Gedenkort mit den Kreuzen. Er hat den Treffpunkt vorgeschlagen. Er ist Anfang fünfzig und ein älterer Bruder von Maynor Suazo aus Honduras, dessen Leichnam nach elf Tagen aus dem Hafenbecken gezogen wurde. Acht Geschwister waren die Suazos, vier leben noch in Honduras, vier lebten in den USA. Maynor Suazo war 38, sein Bruder Carlos sagt, dass Maynor in ein paar Jahren zurück nach Honduras wollte, um sich selbständig zu machen. Stattdessen hat seine Witwe jetzt die Leiche ihres Mannes im Frachtraum des Delta-Fluges 1782 heimgeschickt, eingepackt in Kartonagen.

Carlos Suazo leitet das Foto vom Leichentransport auf Whatsapp weiter. Der offene Sarg bei der Totenwache, der aufgequollene Körper im Dreiteiler. Dazu ein Bild vom Friedhof Azacualpa in Honduras. Am Grab ist seine 82-jährige Mutter zu sehen: „Mi héroe“ steht auf ihrem T-Shirt mit einem Bild von ihr und dem toten Sohn. Mein Held. Mit Motorradkorso wurde er im Ort empfangen, zu Hause veranstalten sie zu seinen Ehren jetzt ein Fußballturnier.

Hier in Baltimore blieb nur dieses improvisierte Monument. „Mir tut das so weh“, sagt Carlos Suazo. Einige Hinterbliebene behalten ihren Schmerz und Zorn für sich, weil ihnen die Aufenthaltserlaubnis fehlt und sie unauffällig bleiben wollen, außerdem streiten Anwälte gerade um Entschädigungen. Nur gibt es voraussichtlich keine Entschädigung für Menschen, die illegal im Land sind. Suazo ist die Entschädigung aber gerade egal.

„Der Wert meines Bruders ist unschätzbar“, sagt er und zündet sich eine Zigarette an. Ja, auch er habe nach all den Jahren in den USA weder die amerikanische Staatsbürgerschaft noch eine Greencard oder eine Arbeitsgenehmigung, trotzdem renoviert er weiter für ein amerikanisches Bauunternehmen Häuser. „Ich habe nichts“, sagt er, „wie wir alle. Nur meine Steuernummer.“ Steuernummer ohne Aufenthaltserlaubnis? In den USA geht das. Demokraten und Republikaner können sich auf kein Einwanderungsgesetz einigen, also schuften hier elf Millionen Einwanderer: ohne Papiere, ohne Rechte, viele ohne Versicherung.

Carlos Suazo konnte nicht mal zur Beerdigung seines Bruders fliegen, weil er danach nicht mehr legal nach Baltimore gekommen wäre. Soll er deshalb den Mund halten? „Ich zahle hier meine Steuern“, sagt Suazo. „Sollen sie mich halt nach Honduras schicken.“ Er redet sich so in Rage, dass er sogar die Sonntagsmesse verpasst. Die meisten der Latinos sind sehr gläubig, sie vertrauen Gott mehr als Politikern. Wobei sich zumindest Carlos Suazo nicht vorstellen kann, dass Trump sie tatsächlich alle abschieben würde. Er brauche sie doch, auch auf seinen Golfplätzen.

US-Präsident Biden hat den Angehörigen der Toten kondoliert, Gouverneur Wes Moore auch, Carlos Suazo fand das gut. Aber er will wissen, wieso ein miserabel gewartetes Containerschiff seinen Bruder töten konnte. Warum die Brücke nach einem einzigen Zusammenstoß kollabierte, warum niemand die Arbeiter warnte.

Aus seiner Sicht hätte die MV Dali auf keinen Fall auslaufen dürfen, sie hatte laut Untersuchungsberichten mehrere Probleme mit der Energieversorgung. Carlos Suazo hat sich wenige Tage nach dem Unfall von einem befreundeten Unternehmer in Baltimore ein Motorboot ausgeliehen und ist die Strecke zwischen Dock und Brücke abgefahren, 22 Minuten lang, wie die MV Dali, nach seinem Bruder wurde zu diesem Zeitpunkt noch gesucht. Plötzlich setzt sich eine Frau neben Carlos Suazo auf die Bank bei den Denkmälern. Es ist María del Carmen Luna, die Witwe von Miguel Luna aus El Salvador. Auch er starb am 26. März.

Sie betreibt mit ihrer Tochter um die Ecke einen Foodtruck, „Carmencita Luna, authentic latin food“. Im Mai hatten sie für zwei Tage zu, „aus familiären Gründen“, wie es auf Facebook hieß. An dem Tag wurde Miguel Luna beerdigt. Sonst ist täglich geöffnet, ohne Miguels Verdienst geht es gar nicht anders. María del Carmen Luna hat ein Blumengesteck am Kreuz ihres Mannes aufgestellt und ein eingeschweißtes Papier mit der Bitte um Spenden, zweisprachig. „God bless you. Dios le bendiga.“

„Das war Fahrlässigkeit“, sagt sie. „Das darf nicht straflos bleiben.“ Experten hielten es erst für möglich, dass gepanschter Treibstoff die Ursache für den Ausfall der Maschine war. Jetzt soll ein kleines Bauteil defekt gewesen sein, das auf dem Schiff zwei Kabel eines Stromkreises verbindet. „Man wird uns nie die Wahrheit sagen“, sagt María del Carmen Luna.

Wegen des Unglücks von Baltimore werden jetzt alle amerikanischen Brücken auf ihre Stabilität hin untersucht, ein Szenario wie an der Key Bridge hatte vorher offenbar keiner auf der Rechnung. Carlos Suazo fährt jetzt noch mal zum Aussichtspunkt. Mehr als 2000 Hafenarbeiter haben hier in nur zwei Monaten 50.000 Tonnen Stahl und Schutt weggeräumt, das eingeklemmte Schiff wurde nach Wochen mit einer kontrollierten Sprengung befreit und mit Schleppern zur Reparatur nach Virginia gebracht. Mehrere indische Crewmitglieder mussten die ganze Zeit über an Bord bleiben, eingesperrt wie Häftlinge, sie durften während der laufenden Ermittlungen nicht das Schiff verlassen.

Der Hafen dagegen sollte schnell wieder öffnen, Baltimore ist wichtig für die Automobilindustrie und ihre Verladeschiffe. Lange versperrte die MV Dali die Zufahrt, Analysten rechnen mit Schadenersatzforderungen von mehreren Milliarden Dollar, allein die Aufräumarbeiten sollen 100 Millionen Dollar gekostet haben, die Kosten für den Wiederaufbau der Brücke werden auf 1,9 Milliarden Dollar geschätzt. Und auch darüber wird diskutiert: ob die neue Brücke wieder nach Francis Scott Key benannt werden soll, der ja nicht nur den Text der amerikanischen Nationalhymne verfasst hat, sondern auch Sklavenhalter war.

Carlos Suazo schaut runter auf den Patapsco River, den Fluss, in dem sein Bruder starb. Angeln würde er hier nicht mehr, auch weil laut Transportaufsicht in mehreren Containern der MV Dali Giftstoffe gewesen sein sollen. Ein Angler zieht trotzdem einen dicken Wels aus dem Wasser. „Baut ihr die neue Brücke auf?“, fragt der Fischer auf Englisch. Suazo lächelt nur. Als hätte er die Frage nicht verstanden.


Einschübe

Natürlich weiß er, dass Trump Leute wie ihn Dealer nennt, Terroristen – Tiere
Sie haben keine Rechte, keine Greencard, nichts. Nur eine Steuernummer
Sie werden wohl nie erfahren, was passiert ist. Mit ihnen redet ja keiner

Bildunterschriften
Warum wurden sie nicht gewarnt? Sechs Latinos starben, als am 26. März die MV Dali die Francis Scott Key Bridge rammte. Sie stürzte zusammen wie ein Spielzeugbrückchen.
Jesus Campos kannte all die Toten, sie hatten zusammen geschuftet. Es war Zufall, dass er sich kurz vor dem Einsturz auf eine andere Baustelle versetzen ließ.