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Er will nicht grün sterben

von Volker ter Haseborg, Florian Weyand, Laura Thalmeyer, Philip Kaleta, Daniel Goffart, Melanie Bergermann und Lukas Zdrzalek
WirtschaftsWoche vom 31.01.2025

Inhalt: Der Artikel analysiert, wie die von der EU im Rahmen des Green Deals eingeführten umfangreichen Nachhaltigkeitsberichtspflichten für Unternehmen zu erheblichem bürokratischem Mehraufwand, Ineffizienzen und Wettbewerbsnachteilen führen. Insbesondere der Mittelstand sei überfordert, während die Wirksamkeit der Maßnahmen für den Klimaschutz fraglich bleibe. Zahlreiche Reformbestrebungen fordern Verschlankung, klarere Standards und mehr Praxisnähe.

Sie sehen hier den reinen Text in der anonymisierten Form für die Jury. Bilder, Layout oder multimediale Umsetzung sind beim Deutschen Journalistenpreis kein Bewertungskriterium. Allein das Wort zählt. Tabellen und Grafiken werden in einem separaten PDF zugänglich gemacht.


Er will nicht grün sterben

Eine Reise durch die Mittelstandsrepublik Deutschland zeigt, dass sich die EU mit ihren Regeln zur Nachhaltigkeit selbst schwächt. Kommissionschefin von der Leyen will umsteuern - die Hüter des Green Deal wehren sich

Die Nachhaltigkeitsbeauftragte der Firma Follmann Chemie hat gekündigt. Und kurz vor Weihnachten ihren letzten Arbeitstag gehabt. Noch ist die Stelle nicht nachbesetzt. Also muss der Chef ran. Und ja, weiß Gott: Die ersten Wochen des Jahres sind hart für Thomas Damerau.

Nach dem Willen der EU muss das Unternehmen aus Minden, Westfalen, für das aktuelle Geschäftsjahr einen Nachhaltigkeitsbericht vorlegen. Eigentlich eine gute Sache. Und Routine. Seit einem Vierteljahrhundert schreiben sie bei Follmann Chemie Nachhaltigkeitsberichte. Auch hat die Firma den CO2-Ausstoß nach eigenen Angaben von 2020 bis 2023 um fast die Hälfte auf 3400 Tonnen gesenkt.

Wo also liegt das Problem?

Es liegt in den 1157 "Datenpunkten", die die EU Thomas Damerau zur Bearbeitung vorschreibt. Neben Angaben zum CO2-Ausstoß soll er nun auch Daten dazu liefern, ob und inwiefern seine Firma zur Wüstenbildung beiträgt. Soll Auskunft darüber geben, ob in seiner Lieferkette Sklaven gehalten werden. Soll den "Bedrohungsstatus" von Tierarten messen. Soll Daten zur Vereinbarung von Beruf und Privatleben seiner Mitarbeiter ermitteln. Soll angeben, wie es im Wirkungskreis seines Unternehmens um die wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Rechte indigener Völker bestellt ist.

Und das ist noch nicht alles. Nicht nur EU-Vorschriften zum Nachhaltigkeitsbericht muss Thomas Damerau einhalten. Sondern auch solche zur Taxonomie, zur Lieferkette, zur Verpackung. Das, was er seit Jahresanfang produziert? Papier statt Wertschöpfung, sagt Damerau: "Wir verschwenden Energie zur Erfüllung von Berichtspflichten."


Mann-auf-dem-Mond-Moment

Damerau ist den Spuren der EU-Regeln, die sein Unternehmen betreffen, gefolgt: zurück zu ihrem Ursprung. Und ist dabei auf den "Mann-auf-dem-Mond-Moment" für Europa gestoßen, den die deutsche EU-Kommissionschefin Ursula von der Leyen am 11. Dezember 2019 ausgerufen hat: Green Deal. Klimaneutralität bis 2050. Investments von einer Billion bis 2030. Das war der Plan. Und Treiber der Transformation sollten die Unternehmen sein: ehrgeizig, innovativ, visionär. Die meisten schlugen ein. Green Deal. Great Deal.

Dachten sie. Das Problem: "Wir sehen jetzt erst, was wirklich dahintersteckt", sagt Damerau: "Ein wahnsinniger Aufwand." Die Regeln aus Brüssel sind von der Realität so weit entfernt wie die Erde vom Mond. Follmann Chemie stellt Druckfarben, Beschichtungen, Klebstoffe her. Und Damerau ist bei seiner Recherche klar geworden, wie verklebt und verkrustet die Strukturen sind - wie sein Unternehmen, seine Kunden und Lieferanten regelrecht (sic!) festgetackert werden.

Am vergangenen Mittwoch sind in Berlin und anderen Städten Tausende Unternehmer für einen "Wirtschaftswarntag" auf die Straße gegangen, um gegen die überbordende Bürokratie zu protestieren. Nach einer Umfrage des ifo Instituts für die Stiftung Familienunternehmen ist für 40 Prozent der Bürger der Abbau von Bürokratie das wichtigste Thema - vor der Senkung der Steuern und Energiepreise. Der Sägenunternehmer Nikolaus Stihl hat der Politik nun (abermals) ein Ultimatum gesetzt: Entweder die Standortbedingungen werden besser - oder er verlagert Investitionen in die Schweiz.

Europa hat sich mit dem Green Deal übernommen. Das zeigt exemplarisch die EU-Richtlinie 2022/2464, die große, vor allem börsennotierte Konzerne inklusive Banken und Versicherungen seit 2024 verpflichtet, neben Finanzkennzahlen auch einen Nachhaltigkeitsbericht zu erstellen und ihn von Wirtschaftsprüfern testieren zu lassen. In diesem Jahr soll die Pflicht auf 15 000 größere Mittelständler in Deutschland ausgeweitet werden, ab 2026 sollen auch kleinere Unternehmen dran sein. Obwohl die Richtlinie wegen des Scheiterns der Ampelkoalition noch nicht als deutsches Gesetz wirksam ist, ist sie längst Teil des Geschäfts: Großunternehmen fordern von ihren Lieferanten Rechenschaft. Banken überziehen Unternehmen mit Fragebögen. Und weil konkrete Vorgaben fehlen, macht jeder, was er oder sie für richtig hält.

Das Ergebnis: viel gute Absicht. Und noch mehr Murks. Die Berichte landen auf Firmenservern, lagern in Abstellkammern. Allein das Klima retten sie nicht. Immerhin, eine neue Boombranche ist entstanden, ein neuer Beruf mit Zukunft: Berater für Nachhaltigkeitsberichte.

Der Verband der Chemischen Industrie schätzt, dass die Anlaufkosten in diesem Jahr sieben Milliarden Euro betragen - und dass die Berichtspflicht die Gewinne der Betriebe dauerhaft um drei Milliarden jährlich schrumpft.

Fest steht nur: Das Risiko, dass immer mehr Mittelständler in Zukunft keine Kredite mehr erhalten, steigt. Der Green Deal sieht vor, dass Investitionen und Förderungen in "nachhaltige Unternehmen" fließen. Aber ob davon grüninnovative Unternehmen profitieren oder nur solche, die besonders eifrig und pfiffig ihre Berichtspflichten erledigen, steht auf einem anderen Blatt.

"Es ist für viele Unternehmen ein gigantischer Aufwand, die sich oft widersprechenden und nicht immer hilfreichen Vorschriften zu erfüllen", sagt Deutschlands Finanzminister Jörg Kukies (SPD). Er schlägt eine Verschiebung der Nachhaltigkeitsberichtspflicht um zwei Jahre vor. Auch EU-Chefin Ursula von der Leyen will umsteuern und Berichtspflichten um mindestens 25 Prozent abbauen. Das ist durchaus glaubwürdig: Die Deutsche hat es noch an Talent fehlen lassen, sich an die Spitze eines Trends zu setzen.

Doch ob sich "vdL" gegen grüne Hardliner in Brüssel auch durchsetzen kann? Während Europa noch überlegt, handeln die USA: Präsident Donald Trump schafft die Nachhaltigkeitsmaßnahmen seines Vorgängers ab, lockt Unternehmen mit schnellen Verfahren, Steuergutschriften und dem Abbau vor Vorschriften.

Europa muss reagieren.

Reagiert Europa?


Prosa statt Zahlen

Chemieunternehmer Thomas Damerau schlägt sich unterdessen mit seinen 1157 Datenpunkten herum. Und sagt, er werde 869 bearbeiten können (siehe Grafik Seite 19). Darunter Daten zur "Umweltverschmutzung". Er soll selbst entscheiden, ob das Thema wesentlich und berichtenswert für ihn ist. Einerseits halte Follmann Chemie sämtliche Grenzwerte ein. Also nicht wesentlich? Kommt darauf an. "Wenn unter Umweltverschmutzung eine Fahrt mit dem Verbrenner-Auto zum Kunden verstanden wird, sieht die Sache schon ganz anders aus."

Damerau hat einen Nachhaltigkeitsberater gefragt. Der habe ihm gesagt, dass er frei sei in dem, was er als wesentlich einstuft. Frei? Guter Witz.

Damerau schätzt, dass man gut 70 Prozent der Punkte nicht mit Zahlen, sondern nur mit Worten abhandeln kann. Als Naturwissenschaftler wolle er aber Zahlen liefern, keine Prosa.

Den Daten aus der Lieferkette misstraut er. Den Rohstoff Tallharzester etwa kaufe er im Ausland ein, sagt er; die Harze werden in Schmelzklebstoffen eingesetzt. Um den CO2-Fußabdruck zu ermitteln, könne er den Lieferanten fragen - oder Durchschnittswerte von Datenbanken wie Ecoinvent oder GaBi abfragen. Das Problem: "Die Zahlen der Datenbanken gehen teilweise weit auseinander. Faktor 2 ist das Schlimmste, was ich gefunden habe."

Daten, mal so viel, mal doppelt so viel - je nachdem, wo man sie abruft? Und diese Daten sollen die Basis dafür sein, dass Unternehmen, Banken und Investoren auf ihrer Basis über Förderungen und Kredite verhandeln. Dass kann doch, wieder mal, nur ein Scherz sein?

Kein Scherz. Stattdessen gleich noch einer: Matthias Belitz vom Verband der Chemischen Industrie kritisiert Systemfehler in der Taxonomieverordnung; sie schreibt Unternehmen eine Klassifizierung ihrer Aktivitäten vor. Chemische Vorprodukte werden danach nicht als Beitrag zur nachhaltigen Transformation anerkannt. Solarpaneele könnten also erfasst werden - die Produktion des Vorproduktes Polysilizium könne es nicht.


Blick in die Glaskugel

Johann Vetter ist das Nachhaltigkeitsgesicht der Netzsch-Gruppe, einem Pumpenhersteller aus dem oberfränkischen Selb, 4500 Mitarbeiter, 860 Millionen Euro Jahresumsatz. Die Firma muss für das laufende Geschäftsjahr einen Nachhaltigkeitsbericht erstellen. Vetter will sich damit als grünes Unternehmen am Markt etablieren - und umweltbewusste Fachkräfte anziehen. Eine halbe Million koste der Aufwand im Jahr.

"Wir stoßen immer wieder auf Dinge, die unsinnig sind", sagt Vetter. Die Klimarisiken, die seiner Firma drohen, soll er in den Berichten zehn Jahre im Voraus abschätzen: "Ich soll in die Glaskugel schauen - und sagen, ob dann noch genügend Grundwasser für unsere Standorte vorhanden ist." Er müsse auch die Geodaten von Lieferanten besorgen, um die Herkunft der Produkte nachzuweisen. Aber was, "wenn uns jemand nicht die Wahrheit sagen will"? Außerhalb der EU werde das Thema Nachhaltigkeit lockerer gesehen oder gar nicht in Betracht gezogen: "Das ist eine Wettbewerbsverzerrung."

Es sind vor allem die energieintensiven Betriebe, die um ihre Geschäftsmodelle fürchten. So wie die Gießerei G.A. Röders in Soltau, Lüneburger Heide, die es seit 1814 gibt. Gerd Röders repräsentiert die sechste Generation. 500 Mitarbeiter, Jahresumsatz 50 Millionen Euro, fertigen hier Flugzeugtische und Eckverbindungen für Autos.

Röders hat 1980 die Grünen in Soltau mitgegründet. Die Umwelt schützen. Das Familienunternehmen führen. Das ist sein öffentliches Leben. Fünf seiner elf Öfen hat er elektrifiziert. Sein Betrieb bezieht Ökostrom. Trotzdem stößt G.A. Röders noch 1000 Tonnen CO2 im Jahr aus.

Seine großen Kunden - man kennt sie aus dem Dax - haben ihm Fragebögen geschickt. Weil er Teil ihrer Lieferketten ist, muss Röders Nachhaltigkeitsdaten liefern - Jahre bevor er selbst berichtspflichtig ist.

Die Konzerne schicken Standardfragebögen - ohne Rücksicht auf die Größe des Betriebs. Ein Bäcker, der Brötchen für die Kantine eines Konzerns liefert, muss Fragen zur Kinderarbeit in seiner Lieferkette beantworten. Soll nachweisen, wie die Einhaltung einer Nachhaltigkeitsrichtlinie bei seinen Lieferanten geprüft wird. Selbst Kleinstbetriebe, die von der Berichtspflicht ausgenommen sind, sehen sich zur Mitarbeit gezwungen. Die Angst, einen Kunden zu verlieren, wiegt schwer.

Gießereiunternehmer Röders soll für seinen Nachhaltigkeitsbericht und die seiner Kunden seine Abluft messen - obwohl er durch Fenster und mehrere Anlagen an der Decke entlüftet. Eine zentrale Anlage würde 1,5 Millionen Euro kosten - Geld, das er nicht hat. Röders beklagt ein generelles Misstrauen, fühlt sich "permanent in der Defensive". Er sagt: "Ich will nicht als grüner Betrieb pleitegehen. Ich will, dass meine Gießerei erhalten bleibt."


Permanentes Misstrauen

Wie fühlt es sich an, wenn alles vorbei ist? Still, sehr still. So wie an einem kalten Januarmorgen auf dem Gelände der Firma N3 Engine Overhaul Services im thüringischen Arnstadt. Die Mitarbeiter reparieren hier Rolls-Royce-Flugzeugmotoren und jagen danach testweise eine Tonne Luft pro Sekunde durch die Triebwerke. Doch an diesem Tag legt sich Nebel über das Firmengelände, die Luftfeuchtigkeit ist zu hoch. Zwangspause. Trotz voller Auftragsbücher. N3 hat knapp eine Milliarde Euro erwirtschaftet - ein Plus von 18 Prozent im Vergleich zum Vorjahr. Die Geschäfte laufen bestens.

Aber wie lange noch?

N3 muss für jede Prüfung viel Kerosin verbrennen, braucht viel Erdgas für seine Maschinen. Trotzdem will das Unternehmen mitmachen bei der grünen Transformation. Man experimentiert mit nachhaltigen Kraftstoffen, setzt energiesparende Maschinen ein. Geschäftsführer Stefan Landes sagt, er müsse fünf Vollzeitstellen für die Nachhaltigkeitsberichterstattung vorhalten. Seit drei Jahren laufen die Vorbereitungen. Zusätzliche Kosten pro Jahr: eine Million Euro.

Im vergangenen Jahr hat N3 eine größere Finanzierung bekommen. Dabei habe sich ausgezahlt, dass die Firma schon seit Längerem Daten zur Nachhaltigkeit erhebt, sagt Landes. Gute Konditionen. Langfristige Finanzierung. "Die Bank hat uns gesagt, dass die Entscheidungsgremien verstärkt darauf schauen, wie wir die Nachhaltigkeitskriterien erfüllen."

Das stimmt - und das frustriert auch die Banken. Liane Buchholz, Präsidentin des Sparkassenverbands Westfalen-Lippe, beklagt, dass ihre Leute bei Unternehmen "zig Daten abfragen, die teilweise mit ihrem eigentlichen Geschäft gar nichts zu tun haben und die sie unter Umständen auch gar nicht haben". Der Personalaufwand sei enorm, bei den Banken, bei den Kunden: "Ich glaube nicht, dass wir so die Erderwärmung aufhalten."

Dasselbe Bild ergibt sich bei den Volksbanken. Von den Instituten, die Nachhaltigkeitsberichte erstellen müssten, werde der Prozess als "erhebliche Belastung wahrgenommen", sagt Nana von Rottenburg, Referentin für Nachhaltigkeit beim Bundesverband der Deutschen Volksbanken und Raiffeisenbanken.


Fragen zum Betriebsklo

Bei ihren Fragebögen gehen die Institute ähnlich kreativ vor wie die Konzerne. Eine Bank will etwa von ihren Kunden wissen, ob sie die Klospülungen im Betrieb mit Stop-Funktionen, die Wasserhähne mit Lichtschranken versehen haben. Auch nach etwaigen Dachbegrünungen und Wildtierkorridoren wird gefragt.

Die Banken sollen die Daten erheben, um eine "Green Asset Ratio" ausweisen zu können. Sie soll den Anteil nachhaltiger Investments am Portfolio spiegeln. Doch das Ziel, auf diese Weise "gute" von "schlechten" Banken zu unterscheiden, ist unerreichbar - schon weil Regeln unterschiedlich ausgelegt werden und nicht alle Kredite in die Berechnung einfließen, kritisieren die Bankerinnen.

Trotzdem habe die Taxonomie bereits jetzt Folgen, sagt Buchholz. Manche Banken hätten sich selbst verpflichtet, keine Kredite mehr an Unternehmen auszureichen, die als nicht nachhaltig eingestuft werden. "Auch die Landesbanken finanzieren bestimmte Dinge nicht mehr."

In einem Fall sei ein Hersteller von Gabelstaplern betroffen gewesen, der seine Produktion erweitern wollte, erzählt Buchholz. Er habe keinen Kredit erhalten, weil ein Kernkraftwerk in Großbritannien zu seinen Hauptkunden zählt. Man habe dann eine Lösung innerhalb der Sparkassen-Gruppe gefunden.

Buchholz rechnet damit, dass sich die Lage verschärft, weil Nachhaltigkeitsrisiken perspektivisch höher gewichtet werden. Im besten Fall bekomme ein Kunde mit hohen Nachhaltigkeitsrisiken dann schlechtere Konditionen eingeräumt. Im schlimmsten Fall gar keinen Kredit.

Die Frage, wie der Kampf gegen den Klimawandel geführt werden soll, beschäftigt Martin-Sebastian Abel schon lange. Er saß eine Legislatur lang für die Grünen im NRW-Landtag; inzwischen ist er der FDP beigetreten: Er sagt, ihn habe gestört, dass seine alte Partei "alles regeln will, bis ins kleinste Detail", das "führt nicht weiter". Ähnlich blickt er auf die Nachhaltigkeitsregulierung in der EU. Abel berät heute Unternehmen auf ihrem Weg durch den Vorschriftsdschungel. Er sagt: "Die umständlichen Regeln verprellen sogar Firmen, die das wichtige Ziel, den Klimawandel zu bekämpfen, vorantreiben wollen."

Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen sagt, sie habe verstanden. Sie verspricht einen "beispiellosen" Bürokratieabbau. Er soll sich auf alle Nachhaltigkeitsberichte, die Taxonomieverordnung und das Lieferkettengesetz erstrecken: Alles soll vereinfacht werden - und für weniger Firmen gelten.

Klingt gut. Doch in der Kommission ist ein Kampf um den Green Deal entbrannt. Soll man ihn wie besprochen durchpeitschen? Diese Linie vertritt Teresa Ribera, erste Vizepräsidentin und von der Leyens Stellvertreterin in Brüssel. Die frühere spanische Umweltministerin gilt als Hardcore-Ökologin und wird von der Wirtschaft misstrauisch beäugt. Ebenfalls im Lager der Lordsiegelbewahrer des Green Deal steht Wopke Hoekstra, der niederländische Kommissar für Klimaschutz.

Das Problem der Kommissionspräsidentin ist, dass sie keine Richtlinienkompetenz besitzt, also keine Anweisungen für die Gestaltung von Richtlinien erteilen darf. Will sie - wie jetzt mit ihrem "Wettbewerbskompass" - Korrekturen oder gar eine Abkehr von der bisherigen Politik einleiten, muss sie eine Mehrheit im Kollegium der Kommissare gewinnen.

Auch im Europaparlament wird in den Reihen der Grünen und Sozialisten gegen "eine Aufweichung des Green Deal" protestiert. Skepsis klingt durch, wenn der CSU-Europaabgeordnete Markus Ferber betont, dass "die vielen wohlklingenden Maßnahmen nun auch tatsächlich kommen und am Ende wirklich einen Mehrwert in der Praxis liefern" müssten.

Die Bandbreite der Reformideen ist groß. Während einige den Green Deal unberührt lassen wollen, fordern Europapolitiker wie Andreas Schwab, binnenmarktpolitischer Sprecher der EVP, eine Generalrevision, konkret: die vollständige Rücknahme der Berichtspflichten und des Lieferkettengesetzes.

Wie zäh der Machtkampf ist, zeigt auch ein Vorstoß der Europäischen Bankenaufsicht. Sie gab am 9. Januar - ohne Abstimmung mit der Kommission - Leitlinien für Europas Banken heraus. Die Geldinstitute sollen umfassend Daten zu Nachhaltigkeitsrisiken ihrer Kunden sammeln und dabei auch Daten von Drittanbietern nutzen - die bereits erwähnten fehleranfälligen Datenbanken.

Statt weniger Bürokratie gibt es nun also noch mehr davon. Finanzminister Kukies ist entsetzt: "Wir sehen vor allem für kleinere und mittlere Institute in der EU Probleme darin, diese Anforderungen zu erfüllen." Banken und Kunden hätten einen zusätzlichen Aufwand: "Diese Leitlinien stehen damit auch beispielhaft für das, was zunehmend an der EU-Finanzmarktregulierung kritisiert wird."


Der Trump-Effekt

Rainer Kambeck, bei der Deutschen Industrie- und Handelskammer zuständig für die Wirtschafts- und Finanzpolitik, hat für den Diskurs in Brüssel ein paar Vorschläge. Die Berichterstattung solle sich auf wenige, ausgewählte Kennzahlen beschränken - und ein standardisiertes Verfahren für die Erfüllung mehrerer Verordnungen sorgen. Die bisherigen Verfahren seien "einfach zu ambitioniert", sagt Kambeck: "Die Unternehmen stehen im Wettbewerb, nicht nur mit chinesischen und amerikanischen Unternehmen. Auch in Europa werden Richtlinien unterschiedlich umgesetzt." Immerhin: Mit dem Amtsantritt von Trump entstehe womöglich Druck auf die EU, sich zu bewegen.

Firmenberater Abel kritisiert, die EU hätte stärker auf die Regularien des International Sustainability Standards Board (ISSB) aufbauen sollen: "Diese Vorgaben sind global akzeptiert."

Das ISSB ist Teil der IFRS-Stiftung, die bereits die gleichnamigen Bilanzstandards für Unternehmen entwickelt hat. Bei den ISSB-Vorgaben für Nachhaltigkeit sieht Abel einen entscheidenden Vorteil: "Sie legen ohne Interpretationsspielraum fest, welche Kennzahlen wichtig sind." So können Unternehmen auf einer Webseite nachschauen, welche der 26 Datenkategorien für sie relevant sind.

Für das Chemieunternehmen Follmann etwa wären es nur zehn. Und auf einer bloß zweiseitigen Liste stehen alle Daten, die erhoben werden müssten.


Gefahr durch Fehlanreize

Gräfelfing bei München. Hannah und Miriam Betz führen durch ihre Familienfirma Betz-Chrom. 60 Mitarbeiter. Sieben Millionen Euro Jahresumsatz. Gasturbinen erwärmen riesige Tauchbecken mit Chromsäure auf 55 Grad, auf der Oberfläche schwimmt orangefarbener Schaum. Stahlteile werden in den Becken mit einer Chromschicht überzogen. Die Kunden des Unternehmens kommen vor allem aus dem Maschinenbau.

Mutter und Tochter Betz haben die CO2-Emissionen seit 2018 um 38 Prozent auf 411 Tonnen gesenkt. Sie wollen in 15 Jahren CO2-neutral wirtschaften. Der Strombedarf sei "nach wie vor hoch", schreiben sie in ihrem Nachhaltigkeitsbericht, den die Firma seit 17 Jahren erstellt.

Die Unternehmerinnen sind optimistisch, dass sie gut vorbereitet sind auf die neuen Berichtspflichten. "Klar, das trifft uns in Zeiten, die ohnehin angespannt sind. Aber anderseits sind die Zeiten in Sachen Klimawandel auch angespannt", sagt Hannah Betz, und: Wenn Nachhaltigkeit im Wettbewerb berücksichtigt wird, sei das genau das, was sie wolle.

Wenn.

Ihre Firma sei ein gutes Bespiel für Fehlanreize der EU. Die Stahlteile werden nicht aus dekorativen Gründen verchromt, sondern damit sie länger halten. Betz verweist auf eine Studie des Umweltbundesamts, in der steht, dass die galvanische Oberflächenveredlung in Deutschland jährlich Korrosions- und Verschleißschäden in Höhe von rund 150 Milliarden Euro verhindert. Werden also in den EU-Regeln nur die CO2-Emissionen berücksichtigt - oder auch die positiven Auswirkungen für den Lebenszyklus eines Bauteils? Darüber denkt Hannah Betz viel nach. Aber "was die EU wirklich unter Nachhaltigkeit versteht", sagt sie - "wir wissen es noch nicht"

Einschübe

„Wir verschwenden Energie zur Erfüllung von Berichtspflichten“
Thomas Damerau
Geschäftsführer Follmann Chemie

„Ich glaube nicht, dass wir so die Erderwärmung aufhalten“
Liane Buchholz
Sparkassenverband Westfalen-Lippe

Bildunterschriften

Gerd Röders aus Soltau ist Umweltschützer – und Gießereiunternehmer. Durch die Nachhaltigkeitsregeln der EU sieht er sein Unternehmen bedroht

Thomas Damerau ist Chef des Unternehmens Follmann Chemie, das Flüssig-Abdichtungen herstellt. Für den Nachhaltigkeitsbericht der Firma muss er 1157 Datenpunkte sammeln

Die Firma N3 im thüringischen Arnstadt repariert Flugzeugtriebwerke. Geschäftsführer Stefan Landes investiert eine halbe Million Euro jährlich in die Dokumentation der Nachhaltigkeit

Miriam (links) und ihre Tochter Hannnah Betz führen die Firma Betz-Chrom in Gräfelfing. Die Spezialität des Hauses: Förderschnecken für die Kunststoffproduktion