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Der kranke Staat

von Martin Greive, Frank Specht, Britta Rybicki, Julian Olk, Dietmar Neuerer, Barbara Gillmann, Josefine Fokuhl und Heike Anger
Handelsblatt vom 07.02.2025

Inhalt: Der Artikel untersucht die Frage, warum Bürger und Unternehmen den deutschen Staat als überfordert und ineffizient wahrnehmen. Schwerpunkte sind Bürokratie, geringe Produktivität, Überregulierung, schleppende Digitalisierung, Beharrungsmentalität, hohe Personalkosten im Öffentlichen Dienst und dysfunktionaler Föderalismus. Es brauche grundlegende Reformen und eine neue Mentalität, um das Vertrauen in die Handlungsfähigkeit des demokratischen Staatswesens zu erhalten.

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Der kranke Staat

Spätestens seit dem Fall Aschaffenburg ist "Staatsversagen" zum Wahlkampfbegriff geworden. Stimmt der Eindruck, dass den deutschen Behörden immer weniger gelingt - bei immer höheren Kosten?

FDP-Chef Christian Lindner und [das] linksalternative [andere Medium] bilden in vieler Hinsicht die Antipoden des demokratischen Spektrums in Deutschland. Doch in der Beurteilung der tödlichen Messerattacke von Aschaffenburg klingen sie sehr ähnlich. "Wir haben ein veritables Staatsversagen in Deutschland", sagte Lindner, nachdem bekannt geworden war, dass ein ausreisepflichtiger und bereits mehrfach als gewalttätig aufgefallener Migrant die Tat begangen hatte. [Das andere Medium] sekundierte: "Nach den entsetzlichen Morden von Aschaffenburg von Staatsversagen zu sprechen, ist angebracht."

Staatsversagen - das Wort bewegt die Republik. Nicht nur in der Migrationspolitik gewinnen Bürgerinnen und Bürger vielfach den Eindruck: Der Staat ist nicht mehr Herr der Lage, er hat die Kontrolle verloren. Selbst wenn der politische Wille da ist, etwas zu ändern, etwa bei der schnelleren Abschiebung abgelehnter Asylbewerber: Die Ambitionen der Regierung versickern zum großen Teil in den Sedimentschichten der Verwaltung. Im Ergebnis ändert sich wenig.

Längst ist das angebliche oder tatsächliche Staatsversagen zum politischen Kampfbegriff geworden, aus dem sich maßgeblich die gesellschaftliche Polarisierung und der Aufstieg der AfD speisen. Laut einer Forsa-Umfrage im Auftrag des Deutschen Beamtenbundes halten 70 Prozent der Bürger den Staat für überfordert, unter den AfD-Anhängern sind es 90 Prozent. Nur noch 25 Prozent glauben, der Staat könne seine Aufgaben erfüllen. Ein neuer Tiefpunkt.

Und bestätigt sich diese Einschätzung nicht tagtäglich? Der Weg zur Arbeit dauert eine halbe Stunde länger, weil eine Brücke saniert wird. Ist aber egal, denn gerade als man losfahren will, kommt die Nachricht, die Kita falle wegen Erziehermangel aus. Also wieder parallel die Zweijährige betreuen und digital am Meeting teilnehmen - wenn das Internet doch nur nicht so wackelig wäre! Wenn der Stress Herzrasen verursacht: Pech gehabt, der Kardiologe hat für Kassenpatienten erst in sieben Monaten einen Termin frei. Was sich wie ein schlechter Sketch anhört, ist inzwischen bittere Alltagserfahrung vieler Bürger.

"Das Vertrauen in die Funktionsfähigkeit des Staates hat bedenklich abgenommen", sagt der frühere Finanzminister Peer Steinbrück (SPD). "Wenn wir die Handlungsfähigkeit des Staates nicht verbessern, erhalten wir ein Demokratieproblem", warnte der frühere Innenminister Thomas de Maizière (CDU) in einem Interview mit [anderem Medium II]. Denn nur ein Staat, der funktioniert, erzeugt auch Legitimation. Die ständige Krisenerfahrung hätte das Vertrauen der Bürger "nachweislich erschüttert", gestand auch Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) im vergangenen Jahr in einer Regierungserklärung ein.

Der Vertrauensverlust ist langsam in die Deutschen eingesickert. Der Soziologe Steffen Mau beschreibt die Entwicklung mit dem Begriff "Allmählichkeitsschaden" aus der Versicherungswirtschaft. Damit bezeichnen Versicherungen Schäden, die über einen längeren Zeitraum entstehen und unbemerkt bleiben. Etwa wenn im Bad hinter der Wand ein Rohr tropft, aber niemand es bemerkt. Bis der Schaden irgendwann so groß ist, dass die komplette Wand erneuert werden muss.

Erneuert wurde im deutschen Staatswesen schon lange nichts mehr. Deutschland wird im Wesentlichen heute noch so regiert wie in den 90er-Jahren. Strukturen wurden nie infrage gestellt, stattdessen Kompetenzen zwischen Bund und Ländern so lange verwischt, bis sich am Ende niemand mehr zuständig fühlte und der Fortschritt auf der Strecke blieb.

Zugleich sind die Ansprüche an den Staat gestiegen. Spätestens nach der Krise zur Jahrhundertwende ist die Politik in Paternalismus verfallen. "Der Staat ist nicht dazu verpflichtet, allen Bürgern alle Widrigkeiten in einer Art Vollkaskoversicherung zu kompensieren oder einen anstrengungslosen Wohlstand zu gewährleisten", sagt Steinbrück.

Doch diverse Bundesregierungen erweckten und erwecken bis heute den Anschein, die Bürger vor jeder noch so großen Krise abschirmen zu können. Damit hat der Staat jedoch eine Erwartungshaltung geschürt, die er gar nicht einlösen kann. "Diese Lieferando-Einstellung gegenüber dem Staat, er habe sofort zu liefern, ist schlimm", sagt de Maizière. Den Bürgern werde sogar weisgemacht, der Staat sei auch für ihr immaterielles Wohlbefinden zuständig: Heimat, Glück, die Verhinderung von Einsamkeit. "Das kann er nicht. Das führt zwingend zu Enttäuschungen", warnt de Maizière.

Die Politik verspricht sich um alles zu kümmern, liefert oft aber nicht einmal die Basics, wie sich an den bröckelnden Schulen, Straßen und Schienen oder der heruntergekommenen Bundeswehr besichtigen lässt. Die Bürger gewinnen so den Eindruck, für ihre tendenziell steigende Steuer- und Abgabenlast eine immer geringere Gegenleistung zu erhalten.

Hauptursache: Deutschland gilt inzwischen als Paradebeispiel einer "Vetokratie". Mit diesem Begriff bezeichnet der Ökonom Mike Moffatt ein Dickicht aus Paragrafen und Mitwirkungsrechten, durch das sinnvolle Projekte um Jahre verzögert und unwirtschaftlich werden, weil jeder mitreden dürfe, vom Regierungschef bis zum Mopsfledermausschützer. Dadurch greift eine Regelungswut und Verrechtlichung um sich, die jeder Politiker zwar eindrücklich beklagt - die aber schwer zu überwinden ist.

In der Bürokratie gilt das "Parkinson'sche Gesetz", benannt nach einem britischen Kolonialbeamten. Demnach haben Verwaltungsapparate die Angewohnheit, sich aufzublähen: Je mehr Personen in einer Behörde zusammensitzen, desto mehr Zeit benötigen sie, um sich selbst zu verwalten. Je mehr parallele Institutionen es gibt, desto mehr Zeit geht dafür drauf, die Interessen und Aufgabengebiete der eigenen Behörde gegen konkurrierende staatliche Instanzen zu verteidigen.

Das ist offenbar verdammt anstrengend: In Deutschland arbeiten heute 5,3 Millionen Beschäftigte im öffentlichen Dienst, 400.000 mehr als zur Jahrtausendwende. Und doch klagen die Verbände in diesem Bereich über chronische Unterbesetzung und Arbeitsüberlastung. So sieht der Deutsche Beamtenbund eine Personallücke von 570.000 Beamten.

Sicher, das alles ist noch nicht gleichbedeutend mit Staatsversagen. Deutschland ist kein "Failed State" wie Somalia. Die Bundesrepublik verfügt über ein stabiles Rechtssystem, eingespielte politische Prozesse und eine Infrastruktur, um die uns viele Länder beneiden. Durch die Coronapandemie oder die Energiekrise kam Deutschland vergleichsweise gut. Doch wenn keine Krise, sondern Regelbetrieb herrscht, klappt gemessen an der Größe des deutschen Staatsapparats zu wenig.

Union und FDP haben Forderungen nach einer Staatsreform in ihre Programme aufgenommen, aus der SPD kommen teils ähnliche Vorschläge. Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier (SPD) hat eine Expertenkommission "Initiative für einen handlungsfähigen Staat" eingesetzt, die Vorschläge für eine Staatsreform erarbeiten soll. Ein Mitglied ist der frühere Präsident des Bundesverfassungsgerichts, Andreas Voßkuhle. Er sagt, Staat und Gesellschaft müssten sich "in gewisser Weise neu erfinden".

Der Zeitgeist geht in vielen westlichen Staaten in diese Richtung. Argentiniens Präsident Javier Milei ließ sich im Wahlkampf mit Kettensäge abbilden, um seine Entschlossenheit zu demonstrieren, den argentinischen Staatsapparat radikal zu zerlegen. In den USA fällt diese Aufgabe dem Präsidentenberater Elon Musk zu. In Deutschland sehen sich die staatsskeptischen Liberalen in der Rolle. Als der FDP-Chef allerdings vor wenigen Wochen sagte, Deutschland müsse "mehr Milei und Musk wagen", handelte er sich reichlich Kritik ein. Denn mindestens bei Musk kann man sich nicht sicher sein, oder es ihm nicht auch darum geht, die demokratischen Institutionen zu zersägen.

Tatsächlich geht es in Deutschland gar nicht zwingend um weniger, sondern um einen handlungsfähigeren Staat. Der Ökonom Michael Hüther setzt dafür auf "klare Verantwortlichkeiten von Politik und Verwaltung auf allen Ebenen". Vermutlich wäre schon viel gewonnen, so Hüther, wenn Politik sich nicht für alles zuständig erklären würde und immer neue Regelungen schaffe, die teils mit anderen Vorschriften ins Gehege kommen und nie wieder abgeschafft werden.

Erforderlich ist in Zukunft ein lernender Staat, der datenbasierte Entscheidungen trifft, Ausgaben auf Wirksamkeit überprüft und durch Digitalisierung produktiver statt immer nur größer wird.

Voraussetzung dafür ist ein grundlegender Mentalitätswandel in Politik und Verwaltung. Dieser kann sich auch über viele kleine Schritte einstellen. Allein wenn die Bürger merkten, dass der Staat anfange, über sich selbst nachzudenken und seine Handlungsfähigkeit zu verbessern, so hofft CDU-Politiker de Maizière, "werden viele ein neues Verhältnis zum Staat entwickeln".

[Das Medium] analysiert in sieben Kapiteln, wie es zum gefühlten Staatsversagen in Deutschland kommt und wie die Chancen stehen, an den Ursachen etwas zu ändern.


1. Ursache: Geringe Produktivität im öffentlichen Dienst

Es gibt viele Behörden, in denen sich Beschäftigte bis an den Rand des Zumutbaren mühen. Doch im Durchschnitt mangelt es im öffentlichen Sektor an Produktivität. Ein Beamter im Bundesfinanzministerium erzählt zum Beispiel, wie der Bundesbildungsbericht Dutzende Male zwischen den einzelnen Ressorts hin- und herging, weil um kleinste Änderungen gerungen wurde. "Dabei liest diesen Bericht niemand", sagt der Beamte.

Ein anderer erinnert sich, wie erstmals eine Fördermilliarde für Künstliche Intelligenz in den Bundeshaushalt eingestellt wurde. Eineinhalb Jahre konnte davon kein Cent ausgegeben werden, weil ein halbes Dutzend Ministerien in über 20 Verhandlungsrunden mit jeweils über 30 Beamten beriet, wie das Geld eingesetzt werden soll. "Wir kamen einfach nicht aus dem Quark", sagt der Beamte. "Und wenn der Staatssekretär kurzfristig keine Zeit hatte, dann hat man sich halt zum x-ten Male vertagt."

Anekdoten wie diese sind kein Einzelfall, wie ein Blick in die Statistik zeigt: Zwischen 1991 und 2024 ist die Produktivität bei den öffentlichen Dienstleistern nur um 6,7 Prozent gestiegen. In der Gesamtwirtschaft lag die Zunahme bei 25,2 Prozent.

Eine Ursache hierfür sind statische Beamtenkarrieren, die produktivitätssteigernde Arbeitsplatzwechsel verhindern. In der Privatwirtschaft hingegen, so der deutsche Ökonom Simon Jäger von der US-Universität Princeton, führten "leichtere Jobwechsel dazu, dass mehr Mitarbeiter zu produktiveren Unternehmen gehen, wodurch die Wirtschaft insgesamt produktiver wird".

Während die unproduktivsten Privatunternehmen irgendwann pleitegehen oder freiwillig ihren Betrieb einstellen, fehlt diese Marktbereinigung im öffentlichen Sektor. Behörden gehen nicht pleite - und selbst wenn ihr Aufgabenbereich wegfällt, sind öffentliche Institutionen sehr findig darin, sich einen neuen zu finden.

Die Wehrpflicht und damit der Zivildienst sind in Deutschland schon lange Geschichte. Das Bundesamt für Zivildienst ist es nicht. Es hat sich ein neues Aufgabenfeld gesucht. Neben der Bundesservicestelle "Aktion zusammen wachsen" und der Servicestelle des "Bundesprogramms Mehrgenerationenhaus" werden auch die Hilfetelefone "Gewalt gegen Frauen" und "Schwangere in Not" vom Bundesamt betreut. Sicher wichtige Aufgaben. Aber ist dafür wirklich eine eigene Behörde in Köln mit 1500 Beschäftigten erforderlich?

Immer wieder wird gerade von Linken behauptet, der Staat sei "kaputtgespart" worden. Und tatsächlich sind einige neuralgische Punkte im Staatswesen ausgedünnt. In den kommunalen Bauverwaltungen etwa fehlen so viele Bauingenieure, dass viele Bauprojekte nicht umgesetzt werden.

Doch unter dem Strich hat sich der Staat zuletzt aufgebläht. In den vergangenen zehn Jahren haben Bund, Länder und Kommunen viele zusätzliche Stellen geschaffen. Die Anzahl der Beschäftigten im öffentlichen Sektor - sozialversicherungspflichtige Arbeitnehmer und Beamte - ist um 14 Prozent gestiegen. Die Ampelkoalition sattelte besonders stark drauf. Sie schuf in nur drei Jahren zusätzliche 1443 Planstellen in der Bundesregierung. Insgesamt stieg die Zahl der Beamten in diesem Bereich um 5,1 Prozent auf 22.087. In der Bundestagsverwaltung reichten bis 2006 drei Abteilungen, um für reibungslose Abläufe im Parlament zu sorgen. Heute sind es sechs.

Sicher, die Anforderungen an den Staat sind gestiegen. Gerade im Bereich innere Sicherheit, etwa bei der Terrorabwehr, der Geldwäschebekämpfung oder dem Kampf gegen hybride Angriffe braucht der Staat mehr und nicht weniger Beamte. Doch häufig sind es nicht diese Mangelbereiche, denen die zusätzlichen Stellen zugutekommen, sondern die Führungsebenen und Leitungsstäbe.

Ein gutes Beispiel dafür ist auch Christian Lindner. Heute fordert er: "Die Ebene der Unterabteilungsleiter in Ministerien kann komplett gestrichen werden. Allein im Finanzministerium sind das 33 tolle Persönlichkeiten in der Besoldungsstufe Brigadegeneral, die an anderer Stelle besser eingesetzt werden können. Die Verwaltung kann schlanker und agiler werden."

In seinen drei Jahren als Finanzminister blieben allerdings nicht nur die Unterabteilungen erhalten. Obwohl das Vizekanzleramt fortan gar nicht mehr im Haus angesiedelt war, behielt Lindner auch alle Staatssekretäre aus der Zeit seines Vorgängers Olaf Scholz.

Lindner war nicht der erste Minister, der das so machte. Und so stieg im Aufgabenbereich "Politische Führung und zentrale Verwaltung" laut dem Institut der deutschen Wirtschaft (IW) in den vergangenen zehn Jahren die Zahl der Stellen beim Bund um 11.000 (32 Prozent), bei den Ländern um 28.000 (21 Prozent) und bei den Kommunen gar um 79.000 (27 Prozent).


2. Ursache: Schleppende Digitalisierung der Verwaltung

Bei seiner Reise in die Mongolei im vergangenen Jahr konnte Verkehrsminister Volker Wissing (damals FDP, heute parteilos) besichtigen, wie selbst Schwellenländer Deutschland abhängen. Über die Regierungsplattform "E-Mongolia" können Mongolinnen und Mongolen mehr als 600 Verwaltungsdienstleistungen online abwickeln. Eine digitale Identifikation erfolgt per App auf dem Handy.

Die Stimmung der deutschen Delegation kühlte während der Präsentation merklich ab. Ein Delegationsmitglied meldete sich vorsichtig: "Und der Führerschein? Ist der auch über E-Mongolia abrufbar?" Die Antwort: natürlich, ja.

Fast ein Jahr später ist das in Deutschland noch immer undenkbar. Allein um einen Standard zum Einkauf von Cloud-Leistungen zu formulieren, brauchte die deutschen Verwaltung 63 Monate. Dabei sollten durch das Onlinezugangsgesetz (OZG) bis Ende 2022 eigentlich alle Verwaltungsleistungen in Deutschland auch online angeboten werden. Doch das Vorhaben scheiterte. Im vergangenen Jahr wurde dann das OZG 2.0, das OZG-Änderungsgesetz, verabschiedet. Nun ist das neue Ziel lediglich noch die Beschleunigung der Verwaltungsdigitalisierung.

Das Bundesinnenministerium nennt als Gründe für das Scheitern des OZG die komplexen föderalen Strukturen, die unterschiedlichen Digitalisierungsstände und eine heterogene IT-Landschaft in der öffentlichen Verwaltung. Ein weiterer Grund, den das Ministerien nicht nennt, sind die Beharrungskräfte in der Beamtenschaft.

Ein Unternehmensberater erzählt, er habe sich vor einigen Jahren extra in die Abteilung versetzen lassen, die Ministerien bei der Digitalisierung berät: "Ich hatte den Drang, etwas Gutes für die Gesellschaft zu tun." Doch schnell habe er seine Entscheidung bereut: "Ich habe noch nie so viel Arroganz bei gleichzeitig null Veränderungsbereitschaft erlebt." Inzwischen hat sich der Berater mit seinem Arbeitgeber verständigt, nie wieder für den öffentlichen Dienst arbeiten zu müssen.


3. Ursache: Automatisch steigende Personalkosten

Dabei täte dem Staatsdienst mehr Effizienz gut - denn das wäre der einzige Weg, um die nahezu automatisch steigenden Personalkosten auszugleichen. Die bekam etwa Verteidigungsminister Boris Pistorius (SPD) nach dem jüngsten Rekordabschluss im öffentlichen Dienst 2023 zu spüren. Der trieb die Personalausgaben der Bundeswehr um knapp 1,8 Milliarden Euro nach oben und zwang Pistorius zum Sparen bei militärischen Beschaffungen.

In mehreren Bundesländern haben die Gewerkschaften diese Woche erneut Beschäftigte des Bundes und der Kommunen zu Warnstreiks aufgerufen. Sie fordern acht Prozent mehr Geld, höhere Zulagen für den Schichtdienst und zusätzliche freie Tage. Sollten alle Forderungen umgesetzt werden, würden die Personalkosten sich dauerhaft um elf Prozent erhöhen, rechnete die Vereinigung der kommunalen Arbeitgeberverbände vor.

Die Gewerkschaften bringen bei ihren Tarifforderungen neben dem klassischen Argument des Inflationsausgleichs die zunehmenden Aufgaben und eine damit einhergehende Leistungsverdichtung vor. So hat allein die Anfang 2023 in Kraft getretene Wohngeldreform der Ampelkoalition den Kreis der Anspruchsberechtigten verdreifacht, was den Arbeitsaufwand in den Gemeinde- und Kreisverwaltungen vergrößert. Argumentiert wird aber auch, nur mit höheren Gehältern lasse sich überhaupt noch Personal für den öffentlichen Dienst finden.

Ein naheliegender Ausweg wäre eine leistungsorientierte Bezahlung, die bürgerfreundliches Arbeiten besonders honoriert. Die ist aber weiter eher die Ausnahme als die Regel im öffentlichen Dienst.


4. Ursache: Mangelnde Lösungsorientierung in Behörden

Seit 1982 betreibt ein Unternehmer eine Druckerei in Niedersachsen. Jahr für Jahr kam ein Institut, um das Abwasser zu prüfen. Es ging um Entwicklerflüssigkeiten und Silbersalze, die bei der Filmentwicklung anfallen. "Seit 2001 gibt es bei uns keine Offsetfilme mehr", berichtet der Inhaber. Als immer weiter geprüft wurde, schrieb er an die Stadt, dass die Chemie bei der digitalen Druckplattenbelichtung weggefallen sei. Die Antwort: Mag sein, aber nur deswegen werde die Abwassersatzung, in der die Prüfung festgeschrieben sei, nicht geändert. "Noch heute, 24 Jahre später, kommt in jedem Frühjahr weiter das Institut und prüft auf unsere Kosten unser Abwasser", erzählt der 74-jährige Unternehmer. "Ich bin kein Wutbürger", sagt er, "aber ich sehe viele unserer Probleme in der Verwaltung."

Lutz Goebel, Vorsitzender des Normenkontrollrats und Wächter über den Bürokratieabbau, sagt: "In Deutschlands Verwaltung dominiert noch immer eine legalistische Denkschule. Rechtssicherheit steht über allem - oft zulasten von Wirtschaftlichkeit, Nachvollziehbarkeit und Effizienz."

Statt praktikable Lösungen zu finden, werde vor allem darauf geachtet, dass Entscheidungen juristisch nicht angreifbar seien. Doch was formal korrekt sei, sei nicht immer sinnvoll oder bürgerfreundlich.

Das Ergebnis? "Frust, Intransparenz und ein wachsendes Misstrauen gegenüber der Verwaltung", meint Goebel und fordert einen "echten Kulturwandel" - weg vom reflexhaften "Das geht nicht", hin zu einem lösungsorientierten "Wie machen wir es möglich?".

Sonst sei das Vertrauen in die Demokratie gefährdet. Die Bürger haben im Schnitt immerhin 1,5 Behördenkontakte pro Jahr, Unternehmen mehr als 200. Es gibt also genug Verzweiflungspotenzial. Jörg Bogumil, Politik- und Verwaltungswissenschaftler an der Ruhr-Universität Bochum, attestiert Deutschland eine "Misstrauensverwaltung": Viele Beamte versuchten, sich abzusichern, statt Probleme zu lösen. Das Mantra laute: Die Akte muss sauber sein. "Die Mitarbeiter haben Angst, Fehler zu machen", meint Bogumil. "Darum ist es an den Vorgesetzten zu sagen: Nutzt Ermessensspielräume, macht keine unnötigen Überprüfungen, handelt problemlösungsorientiert."

Pauschalisierungen könnten dabei helfen. Keine 100-Prozent-Prüfungen, sondern Stichprobenkontrollen. Doch genau das fällt vielen Beamten schon von ihrer Prägung her schwer. Ein großer Teil der Staatsdiener sind Juristen. Sie lernen in ihrer Ausbildung, vor allem im Negativfall zu denken: Was passiert, wenn ein gekauftes Auto nichts taugt, wenn eine Brücke zusammenbricht? Deshalb machen sie Regelungen, um dem Scheitern vorzubeugen, statt Dinge zu ermöglichen. Und in Deutschland ist die Angst vor dem Scheitern besonders groß.

Beispiel Datenschutz: Seit 2018 gilt in der gesamten EU die Datenschutz-Grundverordnung (DSGVO) für die Bearbeitung personenbezogener Daten. Doch Deutschland geht einen besonderen Weg. "Hierzulande werden die Schutzrechte anders als im Rest Europas interpretiert, um es freundlich auszudrücken", sagt Klaus-Heiner Röhl vom arbeitgebernahen IW in Köln. "In Deutschland blockieren unterschiedliche Systeme in den Ländern, überforderte Kommunen und auch Datenschützer seit Jahren die moderne digitale Verwaltung."

Die Folgen lassen sich zum Beispiel bei den Registern beobachten. Davon gibt es in Deutschland rund 375 - etwa das Melderegister oder das Handelsregister, das Register der Steuerdaten oder zur Rentenversicherung. Die Datenbestände überschneiden sich häufig. Aber ein Austausch von Informationen zwischen Registern? Fehlanzeige. "Datenschützer lehnen die Verknüpfung ab", kritisiert IW-Forscher Röhl. "So müssen Bürger und Unternehmen die gleichen Angaben ständig wieder neu machen."


5. Ursache: Staatliche Regelungswut

SPD-Chef Lars Klingbeil betont gerne, wie unsinnig Forderungen der Union nach Steuersenkungen für Unternehmen seien. Den Firmen, mit denen er spreche, brenne etwas ganz anderes unter den Nägeln: zu viel Bürokratie. Tatsächlich geben laut in einer Umfrage des Ifo-Instituts 40 Prozent der rund 900 befragten Firmen Bürokratieabbau als Priorität Nummer eins an, dahinter folgt der Wunsch nach niedrigeren Energiepreisen und erst danach folgen Steuersenkungen.

Man kann die Umfrage allerdings auch so lesen: Wenn Firmen eine überbordende Bürokratie als noch schlimmer empfinden als die im internationalen Vergleich hohe Steuerlast, wie schlimm muss die Belastung durch staatliche Regulierung dann sein?

Das neueste Schreckgespenst der Wirtschaft ist die verpflichtende Nachhaltigkeitsberichterstattung (CSRD). Die CSRD-Richtlinie der EU-Kommission selbst hat 66 Seiten, die ergänzende Verordnung 285 Seiten und die Verordnung für das einheitliche digitale Berichtsformat rund 800 Seiten. Rund 1200 mögliche Kriterien für umwelt- und sozialpolitische Nachhaltigkeit sollen die Unternehmen dokumentieren.

Die CSRD-Richtlinie ist ein typisches Beispiel dafür, wie die staatliche Regelungsdichte immer mehr zunimmt. IW-Ökonom Röhl hat es ausgewertet: Zuletzt galten hierzulande 4663 Gesetze und Verordnungen mit 96.876 zu befolgenden Einzelnormen. "Das sind 21 Prozent mehr als 2010", sagt Röhl.

Ein natürliches Verfallsdatum haben Gesetze nicht. Nur wenige werden je wieder gestrichen. Das zeigt eine [Medium]-Anfrage im Bundesjustizministerium. Demnach wurden von der aktuellen Regierung 347 bundesrechtliche Gesetze erlassen, aber nur 40 sind außer Kraft getreten. Die vorige Große Koalition verkündete 869 Bundesgesetze und strich 78.

Auch neue Daten, die das Bündnis Sahra Wagenknecht (BSW) beim Statistischen Bundesamt erfragt hat und [dem Medium] vorliegen, zeigen: Bürokratie wurde in den vergangenen Jahren nicht ab-, sondern aufgebaut. So ist die Zahl der Informationspflichten seit 2018 von 11.435 auf 12.390 im Jahr 2024 gestiegen. Die sich darauf ergebenden jährlichen Bürokratiekosten aus Informationspflichten für die Wirtschaft kletterten von 50 auf 66,6 Milliarden Euro. "Die Bürokratie in Deutschland ist außer Kontrolle", sagt BSW-Chefin Wagenknecht. Es sei jedes vernünftige Maß überschritten.

Doch nicht nur neue Gesetze, auch häufige Änderungen lähmen das System. "In der Hochphase der Flüchtlingskrise zwischen 2015 und 2017 wurde das Aufenthaltsrecht über 60 Mal geändert", erklärt Verwaltungswissenschaftler Bogumil. Die Folge: 660 kommunale Ausländerbehörden mussten die Änderungen zur Kenntnis nehmen und umsetzen. Der Experte sagt: "Das größte Problem entsteht durch schlechte Regulierung, nicht durch Regulierung an sich."

Zudem gerate das Land zunehmend in eine "Abwägungsverstrickung", wie IW-Ökonom Röhl es ausdrückt. Die Mitsprache von Nichtregierungsorganisationen (NGOs) und Umweltverbänden etwa bei Genehmigungsverfahren sei in den vergangenen 20 Jahren massiv gestärkt worden. Es gebe immer neue Klagerechte. "Gegen die Tesla-Fabrik in Brandenburg hatte ein Verein für Landschaftspflege und Artenschutz aus Bayern einen Eilantrag eingereicht", kritisiert Röhl. "Der ist doch unmittelbar gar nicht betroffen gewesen." Er plädiert dafür, das Verbandsklagerecht zurückzudrehen.

Selbst da, wo der Staat den Bürgerinnen und Bürgern eigentlich Gutes tut will, erzeugt er oft nicht Dankbarkeit, sondern Frust. Eine alleinerziehende Frau mit einem pflegebedürftigen Vater hat Anspruch auf mehr als zehn Sozialleistungen, für die fünf verschiedene Bundesministerien zuständig sind, denen vier unterschiedliche Einkommensbegriffe zugrunde liegen und die von acht Bewilligungsstellen verteilt werden. Durch solch einen Wirrwarr kommt die staatliche Hilfe oft gar nicht bei denen an, denen sie zusteht und die die Hilfe wirklich benötigen.


6. Ursache: Steigende Ansprüche an den Staat

Ob eine Organisation versagt, misst sich an dem, was sie leisten soll, in Relation zu dem, was sie leisten kann. Beim Staat ist den Erwartungen nach oben prinzipiell keine Grenze gesetzt - und diese Erwartungen werden zudem durch den Wettbewerb der politischen Parteien immer weiter geschürt. Ein enorm kosten- und personalintensives Beispiel der letzten Jahre ist der Ausbau der Kinderbetreuung. Sie wurde sowohl von den Eltern vorangetrieben als auch von der Wirtschaft. Die hofft auf mehr Fachkräfte, wenn ein größeres Angebot an Kita- und Hortplätzen es Eltern ermöglicht, länger oder überhaupt zu arbeiten. 1996 wurde ein Rechtsanspruch auf einen Kindergartenplatz ab drei Jahren eingeführt, 2013 folgte der für Kleinkinder ab einem Jahr.

Allein zwischen 2013 bis 2023 stieg die Zahl der betreuten Kinder von 3,2 auf fast vier Millionen. Die Zahl der Erzieherinnen und Erzieher kletterte um gut 50 Prozent auf 700.000. Und damit ist der Bedarf bei Weitem nicht gedeckt: Nach Daten der Bertelsmann-Stiftung fehlen mehr als 400.000 Kitaplätze. Ursache sind einerseits die Kosten und der Mangel an verfügbarem Personal. Ab 2026 wird trotzdem schrittweise ein Rechtsanspruch für die Ganztagsplätze in Grundschulen eingeführt. Der Bedarf wird auf bis zu 800.000 Plätze geschätzt.

Gerade weil staatlich garantierte und zu einem großen Teil auch staatlich organisierte Kinderbetreuung weithin als begrüßenswert gilt, produzieren die absehbaren Engpässe viele Enttäuschungen.

Ähnlich große Ankündigungen, die zu Enttäuschungen führten, machte die Politik in der Wohnungsbaupolitik. 550.000 Wohnungen fehlen aktuell, 400.000 neue Wohnungen versprach die geplatzte Ampelkoalition pro Jahr neu zu bauen. Doch dieses Ziel verfehlte die Regierung bei Weitem. Die Wohnungsknappheit und die hohen Mietpreise sieht SPD-Politiker Steinbrück als einen zentralen Grund, warum viele Bürger so sauer auf den Staat sind.

Auch in der Gesundheitsversorgung, einem anderen zentralen Bereich der Daseinsvorsorge, gibt es teils dramatische Engpässe. Ein Viertel der Patienten wartet demnach länger als 30 Tage auf einen Termin in der Facharztpraxis, wie aus einer repräsentativen Befragung unter gesetzlichen Versicherten im Auftrag des GKV-Spitzenverbands hervorgeht, und damit länger als noch vor fünf Jahren. Ähnlich sieht es in der Pflege aus. Im Dezember 2023 waren fast 5,7 Millionen Menschen pflegebedürftig - ein Anstieg von 15 Prozent im Vergleich zu 2021.

Der Anstieg liegt maßgeblich daran, dass die Bevölkerung immer älter wird. Ein Teil dieses Anstiegs geht aber auch auf die Pflegereform aus dem Jahr 2017 zurück, durch die mehr Menschen als pflegebedürftig anerkannt werden. In solchen Fällen schafft der Staat selbst neue Leistungsversprechen, die dann enttäuscht werden.


7. Ursache: Dysfunktionaler Föderalismus

Manchmal zeigen sich Schwächen des bundesdeutschen Föderalismus in brutaler Offenheit. Etwa dann, wenn im Zuständigkeitsdickicht der verschiedenen Behörden wichtige Informationen nicht zügig weitergegeben werden oder unterschiedliche Erkenntnisse nicht so zusammengeführt werden, dass sich ein Gesamtbild ergibt. Im Fall des Messerangriffs in Aschaffenburg hielt Kanzler Scholz dem Freistaat Bayern Versäumnisse vor, weil der afghanische Tatverdächtige zwar ausreisepflichtig war, aber nicht abgeschoben wurde.

Tatsächlich aber waren der zuständigen Ausländerbehörde im Freistaat die Hände gebunden, weil die Frist für eine Rückführung des Mannes schon abgelaufen war: Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) hatte das Abschiebeschreiben zu spät verschickt. Begründet wurde dies von der Behörde mit der hohen Arbeitsbelastung "aufgrund der hohen Zugangszahlen".

Der Föderalismus in Deutschland führt vielfach nicht dazu, dass sich jene Ebene um ein Problem kümmert, die dazu am besten in der Lage ist, sondern dass sich verschiedene Ebenen Konkurrenz machen oder Verantwortlichkeiten gegenseitig zuschieben. Die deutsche Sicherheitsarchitektur ist ein Flickenteppich aus Landeskriminalämtern, Bundesbehörden, Landesnachrichtendiensten. Und wenn viele Ebenen mitreden, kommt es leicht zu einer Verantwortungsdiffusion: Niemand unternimmt das Offensichtliche, weil davon ausgegangen wird - bewusst oder unbewusst -, dass eine andere Instanz schon rechtzeitig einschreiten werde. Innenministerin Nancy Faeser (SPD) plädiert dafür, die Daten der Polizeien in Bund und Ländern über potenzielle Amoktäter und Terroristen zusammenzuführen. Notfalls solle hierbei auch der Datenschutz eingeschränkt werden.

Andere werden grundsätzlicher. Baden-Württembergs Ministerpräsident Winfried Kretschmann (Grüne) forderte schon 2022 eine "Generalüberholung des Föderalismus". Auch Steinbrück plädiert für eine Reform: "Wir haben Sand im Getriebe unseres Föderalismus. Das Zusammenwirken der Gebietskörperschaften muss verbessert und das Verwaltungshandeln effizienter werden." Rechnungshof-Präsident Kai Scheller fordert: "Wir müssen die föderalen Finanzbeziehungen entflechten. Wer eine Aufgabe wahrnimmt, muss sie auch finanzieren."

Doch die Beharrungskräfte sind groß. Es sei eine Lektion des Nationalsozialismus, dass starke Bundesländer zentralistische Unterdrückung verhindern, argumentieren die Länder, um ihre Kompetenzen zu verteidigen. Auch Bundespolitiker halten von einer neuen Föderalismusreform wenig. Die endeten immer gleich: Der Bund bekomme etwas mehr Kompetenzen, trete im Gegenzug aber unverhältnismäßig viel Geld an die Länder ab. "Davon sollten wir bloß die Finger lassen", sagt ein Haushaltspolitiker im Bundestag.


Fazit: Eine Frischzellenkur für den Staat

Die Vorbehalte in Sachen Föderalismus zeigen, wie schwer eine Staatsreform wird. Denn es geht um die ganz großen Fragen: darum, wer wie viel Macht im Staat hat. Und darum, wo auch die Bürger ihre Ansprüche herunterschrauben müssen. "Die neue Bundesregierung muss nach dem polarisierenden Wahlkampf schnell ihre Handlungsfähigkeit unter Beweis stellen und die notwendigen Strukturreformen ernsthaft angehen", sagt der Ökonom Robert Gold vom Kiel Institut für Weltwirtschaft.

Doch wer offen mit Beamten spricht, bekommt große Zweifel, dass eine Reform gelingen kann. Die Beharrungskräfte seien zu groß, Prozesse zu eingeschliffen, um aus dem System ausbrechen zu können. Kurzum: Eine Reform sei unmöglich.

Doch dass sich etwas bewegen kann, zeigte die Energiekrise. Nach Ausbruch des Ukrainekriegs wurde Deutschland von der Erdgasversorgung aus Russland abgeschnitten, es drohte ein Winter mit kalten Wohnungen und abgeschalteten Fabriken. Die Ampel stampfte daraufhin das Beschleunigungsgesetz für den Import von verflüssigtem Erdgas (LNG) aus dem Boden, das im Mai 2022 in Kraft trat. Die Genehmigungsverfahren für den Betrieb der Terminal-Schiffe waren innerhalb weniger Wochen erledigt, die Auflagen für den Bau der Gasleitungen, an die die Schiffe angeschlossen werden müssen, wurden abgesenkt.

Nur wenige Monate später, im Dezember 2022, ging das erste schwimmende LNG-Terminal in Betrieb. Bei der Eröffnung sprach Kanzler Scholz stolz vom "neuen Deutschland-Tempo".

Zuvor war bereits 2020 die Möglichkeit ausgeweitet worden, große Infrastrukturprojekte per Gesetz statt per Planfeststellungsbeschluss zu definieren. Die Auswirkungen auf den Bau von Windparks und Stromleitungen bis hin zu Wasserwegen sind immens. Die Zuständigkeit wird bei einer Behörde gebündelt, es gibt Ausnahmen von Umweltverträglichkeitsprüfungen, außerdem werden Beteiligungsfristen und der Instanzenweg durch die Verwaltungsgerichte verkürzt. Verwaltungsjuristen sprechen von einem "Paradigmenwechsel in der Beschleunigungsgesetzgebung". Es ist zumindest ein Einstieg in einen handlungsfähigeren Staat.

"Deutschland braucht eine umfassende Staats- und Verwaltungsreform", schreibt die Union in ihrem Grundsatzprogramm und verspricht, den Staat schneller und effizienter zu machen. Nur wie? Die Antwort lautet: raus aus Komplexitätsfalle, sich auf das Wesentliche fokussieren, den Föderalismus neu ordnen, die Chancen der Digitalisierung nutzen und, die Grundlage all dessen, einen Mentalitätswandel im öffentlichen Dienst hinbekommen.

Auch wenn es schwierig wird: Eine Reform der Beziehungen von Bund und Ländern halten Experten für unabdingbar. Warum braucht man etwa 16 verschiedene Bauordnungen im Land? Eine größere Zentralisierung beim Bund macht auch mit Blick auf den Kampf gegen Cyberangriffe, Geldwäsche, Steuerbetrug oder organisierte Kriminalität Sinn.

Vieles andere wiederum könnte den Kommunen übertragen werden, mitsamt entsprechenden Einnahmequellen. "Dort wird im Wesentlichen über die demokratische Substanz unseres Gemeinwesens entschieden", sagt Steinbrück. Das stärkt auch die Einflussmöglichkeiten der Bürgerinnen und Bürger auf ihr direktes Lebensumfeld bei Kommunalwahlen. Auch eine große Sozialstaatsreform ist lange überfällig, bei der die unzähligen verschiedenen Sozialleistungen besser aufeinander abgestimmt werden.

Die Digitalisierung der Verwaltung muss zur Chefsache erklärt werden. Hier hat die als "Fortschrittskoalition" angetretene Ampel nicht geliefert. Der Staat muss auch den Datenschutz lockern und Daten viel stärker zur Grundlage politischer Entscheidungen machen. Außerdem muss er stärker die Wirksamkeit seiner Maßnahmen überprüfen. Zu oft legt der Staat in gutem Glauben Programme auf, die nicht funktionieren. Um dann im zweiten Schritt das Problem mit noch mehr Geld zuzuschütten. "Um die öffentliche Verwaltung für das 21. Jahrhundert zu ertüchtigen, bedarf es eines Mentalitätswechsels weg von der verwaltenden Behörde, hin zum unterstützenden Dienstleister", sagt IfW-Ökonom Gold. Aber auch die Bürger müssten eine andere Einstellung entwickeln. Statt sofort nach dem Staat zu rufen, müssten sie selbst tätig werden, wenn sie die Zustände störten.
Oder wie de Maizière es ausdrückt: „Mitmachen statt mitgenommen werden, das müsste die Haltung sein.“

Einschübe

6,7 Prozent betrug der Produktivitätszuwachs bei öffentlichen Dienstleistern zwischen 1991 und 2024. In der Gesamtwirtschaft lag der Zuwachs bei 25,2 Prozent.

Bildunterschriften

Reichstagskuppel: „Dem Deutschen Volke“ oder „Der Deutschen Verordnung“?

Problemzonen innere Sicherheit, Infrastruktur (oben), mangelnde Digitalisierung (unten), Erfolgsbeispiel schwimmendes LNG-Terminal Wilhelmshaven, zusätzliche Staatsleistung Kita-Betreuung: Tendenziell unbegrenzte Ansprüche an den Staat treffen auf begrenzte Ressourcen.