Das Wunder von Lüdenscheid
von Monika Dunkel
Capital vom 24.05.2025
Inhalt: Beim Neubau der A45-Brücke in Lüdenscheid vergingen nur zwei Jahre von der Sprengung bis zum Neubau. Der Artikel erörtert die Bedingungen und prgamatische Grundhaltung, die die ungewöhnlich schnelle Fertigstellung des Projektes begünstigten, bspw. bei Genehmigung, Gesetzgebung, Ausschreibung und Durchführung.
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Das Wunder von Lüdenscheid
Brücken, Schienen, Straßen – die Infrastruktur ist kaputt, und Sanieren dauert in Deutschland ewig. Doch eine Brücke der A45 zeigt, dass es auch schneller gehen kann
Ende April liegt die Sonne gleißend hell über dem Tal, kein Wölkchen am Himmel – wie bestellt für eine Besichtigung in luftiger Höhe.
Über Metallleitern geht es senkrecht ein Gerüst hinauf. Ziemlich eng alles, zack, knallt der Helm an eine Metallstange. „Beim letzten Mal war das noch bequemer“, ruft Elfriede Sauerwein-Braksiek von oben herunter. Da hatten sie hier extra eine Rampe für die Gäste aus Berlin und Düsseldorf gebaut. Noch eine Wendung, dann steht die Direktorin der Autobahn GmbH Westfalen auf Deutschlands meistbeäugter Autobahnbrücke: der Rahmedetalbrücke in Lüdenscheid.
70 Meter über der Erde wird hier an einem Wunder gebaut. Der Fortschritt ist im wahrsten Sinn schwindelerregend, links und rechts geht es ungeschützt in die Tiefe. Wenn es gut läuft, wird schon bald wieder der Verkehr über das Tal donnern, das einst das kleine Flüsschen Rahmede schuf. Die Autobahn 45, die Sauerlandlinie, wird dann wieder lückenlos das Ruhr- mit dem Rhein-Main-Gebiet verbinden. Und es läuft gut auf der Baustelle, besser als gedacht sogar, im Grunde: einmalig gut für deutsche Verhältnisse.
Die linke Fahrbahn spannt sich bereits über das Tal. 456 Meter Stahlträger haben die Bauarbeiter dafür von beiden Seiten über die Pfeiler geschoben, bis sie sich zart berührten und verschweißt werden konnten. Das war die „Stahlhochzeit“ Ende Februar, zu der sich die Politiker auf und die Schaulustigen unter dem hohen Bauwerk drängten. Zumindest zu Fuß könnte man nun schon wieder bis nach Lüdenscheid gehen.
Im Frühjahr 2026, spätestens Sommer, soll der Verkehr hier wieder rollen, über die dann halbseitig freigegebene Brücke. Vielleicht klappt das aber auch schon diesen Herbst, heißt es schüchtern hinter vorgehaltener Hand. Das wäre wirklich eine Sensation: Die Sprengung der alten Brücke jährt sich im Mai zum zweiten Mal, im Oktober 2023 begann der Neubau. Das wären zwei Jahre Bauzeit. Und es wären nur vier Jahre seit der spektakulären Sperrung vergangen: als eine der wichtigsten Autobahnbrücken von heute auf morgen stillgelegt werden musste – wegen Einsturzgefahr.
Die Brücke von Lüdenscheid wurde zu einem Symbol für die Lage der Nation: die Autobahnen marode, die Bahn notorisch kaputt und zu spät, die gesamte öffentliche Infrastruktur des Landes veraltet. Deutschland, ein Sanierungsfall. Und nicht nur das. Auch das Sanieren selbst schien das Land verlernt zu haben. Denn nicht nur sind Straßen, Schienen und öffentliche Gebäude oft in erbärmlichem Zustand, auch hat man sich daran gewöhnt, dass die Modernisierung Jahre und Jahrzehnte dauert. Fehlendes Geld, überforderte Behörden, langwierige Auftragsvergaben, ein kompliziertes Bau- und Verwaltungsrecht, Klagen noch und nöcher – jeder kennt diese Geschichten. Doch jetzt steht da diese Brücke, fast schon wieder fertig.
Wie ist das gelungen? Und was lässt sich daraus lernen, für andere Brücken, für neue Straßen und Schienen – für das riesige Investitionsprogramm, das Bund und Länder in den kommenden Jahren für die Infrastruktur anstoßen wollen?
RIESEN-KUCHENFORM
Zwei Kräne schweben an diesem Tag über dem Tal, am Brückenkopf spannen Arbeiter weiße Planen. Sie bauen das „Taktzelt“, in dem die Stahlträger für die nächste Fahrbahn geschweißt werden. Am anderen Ende der Brücke leuchtet gelb eine Riesenmaschine, die sich quer über die gesamte Fahrbahn stülpt. „Das ist der Schalwagen“, erklärt Elfriede Sauerwein-Braksiek, die gelernte Bauingenieurin, die sich nun den Helm zurechtrückt und losstapft. Die Arbeit dort will sie in Augenschein nehmen.
Mit dem spinnenartigen Gefährt werden die Bauarbeiter in den nächsten Monaten die Fahrbahn Stück für Stück betonieren, laienhaft übersetzt ist der Schalwagen eine bewegliche Riesen-Kuchenform für Betonteile. Im Bauch der Maschine bleibt die Ingenieurin zufrieden stehen. Denn eigentlich ist Sauerwein-Braksiek als Chefin der bundeseigenen Autobahn GmbH Westfalen Kummer gewohnt. Wo sie auch hinguckt, notleidende Brücken und kaputte Autobahnen, sagt sie. Ihr Zuständigkeitsgebiet im Westen der Republik erstreckt sich über Hessen, NRW und Niedersachsen, wo der Staatsbetrieb verantwortlich ist für den Bau, Betrieb und Unterhalt der Autobahnen. Mit 1 430 Mitarbeitern muss ihre Niederlassung auskommen, rund 16 Prozent der Stellen sind unbesetzt. Sauerwein-Braksiek selbst ist Herrin über 2 330 Brücken, allein 60 große Talbrücken auf der A45 von Dortmund bis Aschaffenburg, alle mehr oder weniger verschlissen.
Wie die Rahmedetalbrücke. Die Lage dort eskaliert am 2. Dezember 2021. An jenem Tag bekommt Sauerwein-Braksiek einen niederschmetternden Anruf: Die Brücke weise schwerste Schäden auf, Beulen im Stahl, Rostschäden, gerissene Schweißnähte – akute Einsturzgefahr. Sie muss das Bauwerk von 1968 sofort sperren. Anfangs hofft sie noch, dass es sich stabilisieren lässt. Doch im Januar ist klar: über diese Brücke rollt nichts mehr.
Dass die Brücke große Mängel aufweist, war da schon seit Jahren bekannt, aufgelistet im sogenannten Brückenbuch. Schon ab 2014 wurden Pläne für einen Ersatzneubau entworfen, aber es passierte wenig. Inzwischen geht sogar ein Untersuchungsausschuss im Düsseldorfer Landtag der Frage nach, wer wann in der Landesregierung pennte und schluderte. Auch Sauerwein-Braksiek wurde vorgeladen. Doch sie will keine Schuldzuweisungen, spricht lieber allgemein von „Mangelverwaltung“ und „Fehlern im System“. Zu wenig Personal und Geld für zu viel Kaputtes, die Brücken bröseln schneller, als man reparieren oder neue planen kann.
KOMPLETT ÜBERFORDERT
In Berlin ist Volker Wissing 2021 erst wenige Tage neu im Amt des Bundesverkehrsministers, als die gesperrte Brücke auf seinem Schreibtisch landet. „Lüdenscheid war ein schreckliches Déjà-vu“, erzählt er Ende April 2025 in seinem Ministeriumsbüro. In wenigen Tagen wird er hier ausziehen, doch nichts ist gepackt, es wirkt fast so, als wolle er einfach bleiben.
Wissings Déjà-vu bezieht sich auf eine wichtige Verkehrsachse in Ludwigshafen: Die Hochstraße Süd, eine von zwei Verbindungen über den Rhein, musste 2019 ad hoc wegen Einsturzgefahr gesperrt werden. Wissing war da Verkehrsminister in Rheinland-Pfalz. Eine „totale Hiobsbotschaft“, sagt er, denn auch die Alternative über den Rhein, die Hochstraße Nord, ist baufällig und für den Verkehr eingeschränkt. Die Stadt allein, sagt Wissing im Rückblick, war mit der Situation komplett überfordert, finanziell wie planerisch.
Die normale Reaktion wäre nun gewesen: ducken. Minister sind immer weit weg, zuständig und wirklich kompetent bei Brücken sind meist andere, die Beamten vor Ort in Kommune oder Land. Für Minister gibt es da wenig zu gewinnen, außer Ärger natürlich, mit Anwohnern, Pendlern und Unternehmern. So war das in Ludwigshafen – und so ist es auch in Lüdenscheid.
Ohne Brücke und Autobahn funktioniert das 72 000-Einwohner-Städtchen im Sauerland mehr schlecht als recht. Nach der Sperrung leiden Unternehmen und Bevölkerung unter Verkehrschaos und Lieferschwierigkeiten. Der eben noch nahe Kunde rückt in weite Ferne, Pendler brauchen Stunden bis zur Arbeit, selbst die Innenstadt leert sich – wer will schon stundenlang im Stau stehen, um einzukaufen? Eine Region wird abgehängt. Und wie so oft in der deutschen Provinz sitzen auch im Märkischen Kreis um Lüdenscheid wichtige Industriebetriebe, die Region ist die wirtschaftsstärkste in NRW. Metallverarbeitende Betriebe, Automobilzulieferer, Kunststoffverarbeiter, alles in allem 150 Weltmarktführer, schätzt die Südwestfälische Indus trie- und Handelskammer (SIHK) in Hagen. Hinzu kommt, dass ein Großteil des europäischen Transitverkehrs über die A45 zu den Häfen in den Niederlanden, nach Frankreich und Großbritannien führt.
Während sie in Lüdenscheid daher schon die Presseerklärung vorbereiten, um die Bürger auf eine jahrelange Verkehrs- und Wartehölle einzustimmen, gibt in Berlin Volker Wissing die Parole aus: „Da müssen wir unkonventionell rangehen.“ Konventionell nämlich heißt: dauert ewig. Bis in Deutschland eine neue Brücke fertig ist, können bis zu 15 Jahre ins Land ziehen. Selbst wenn sie an derselben Stelle entsteht.
Wissing setzt darum kurz nach Amtsantritt Ende 2021 einen Lenkungskreis ein, so hatte er es in Ludwigshafen auch gemacht. Was wenig originell klingt, soll zur Zusammenarbeit zwingen, Zeitdruck aufbauen, Arbeitsfortschritte überwachen. Ein Dutzend Behörden ist involviert, wenn in Deutschland eine Autobahnbrücke gebaut wird. Dafür sind Planfeststellungsverfahren notwendig, zig Gutachten, Prüfungen, Experten, Tausende Seiten Schriftsätze; schlimmstenfalls kommen noch Klagen von Umweltverbänden und Anwohnern hinzu.
Alle zwei Wochen müssen die Beteiligten ab jetzt zum Rapport. Schon die Besetzungsliste entlarvt den ersten Irrsinn: Es sind zu viele Ämter und Ebenen involviert. Märkischer Kreis, Bezirksregierung Arnsberg, die Landesregierung mit den zuständigen Ministerien, das Fernstraßen-Bundesamt, die Autobahn GmbH, Straßen NRW und noch ein paar Behörden mehr, jeweils mit ihren Spitzenleuten. Dazu Sebastian Wagemeyer, Lüdenscheids Bürgermeister, SPD. Ihn hat Wissing zum offiziellen Bürger- und Brückenbeauftragten der Stadt ernannt.
Die Fortschritte sind erst mal zäh. Quälende anderthalb Jahre wird es am Ende dauern, bis sie die Brücke überhaupt sprengen können. Sauerwein-Braksiek zeigt Bilder, die erklären, warum. Für die Sprengung müssen Bagger mehr als 100 000 Kubikmeter Erdreich und Schotter aufschütten, ein riesiges „Fallbett“ muss her, damit die Brücke „weich“ fällt und keine Schäden anrichtet. Im Tal stehen Häuser, unweit der Brücke eine Fabrik. Eine Machbarkeitsstudie ist notwendig. Danach: Wald roden, Wasserleitungen verlegen, Häuser aufkaufen, eine Serpentinenstraßen bauen, um Erde an- und später Brückenreste wieder abtransportieren zu können. Und dann sind da noch die Zwergfledermäuse. Die seltene Art hat sich in den Löchern und Spalten der Brücke häuslich eingerichtet und braucht nun ein Ersatzquartier: sieben hölzerne Fledermaustürme und zwei Betontürme als Pfeiler-Attrappen.
GESETZE NEU
Parallel dazu treiben Sauerwein-Braksiek und die Behörde Genehmigungen und Ausschreibungen voran. Sie hat ein „Brückenkompetenzteam“ eingerichtet, gut 30 Ingenieure und Planer sind das. Erste Hürde: Ausgerechnet das bestehende Planungsbeschleunigungsgesetz im Straßenverkehr. Soll es ohne Planfeststellung und Umweltverträglichkeitsprüfung gehen, dann schreibt es vor, dass eine Brücke „in Form und Gestalt“ genau so wieder aufgebaut werden muss, wie sie war.
Ziemlich bekloppt findet das Wissing: „Niemand baut eine Brücke aus den 60er-Jahren heute genauso wieder auf.“ Schließlich ist die ja kaputt gegangen, weil sie heutigen Ansprüchen nicht mehr genügte: Autos und Lkw sind schwerer geworden, der Verkehr dichter. Also muss die Brücke sechsspurig gebaut werden. Wissings Ministerium formuliert das Gesetz neu. Künftig gilt die beschleunigte Genehmigung auch für anders gestaltete Ersatzbrücken, etwa mit zusätzlichen Fahrstreifen. Eine erste Lehre aus Rahmedetal.
Doch für die Brücke selbst kommt das Gesetz zu spät. Da hilft ein Kniff weiter: Das Fernstraßen-Bundesamt stuft den Ersatzbau Anfang Januar 2023 als „Fall unwesentlicher Bedeutung“ ein – und ermöglicht so einen Bau ohne Planfeststellungsverfahren. Eine große Erleichterung, erklärt Sauerwein-Braksiek. Neu ist auch, dass die Behörden die Pläne vorläufig genehmigen, Unterlagen dürfen nachgereicht werden. Statt hintereinander arbeiten die Behörden nun parallel an Genehmigungen. Und niemand erhebt Klage. „Alle haben an einem Strang gezogen, weil die Not so groß und der Druck sehr hoch war“, fasst es die Autobahnchefin zusammen.
Auch bei der Ausschreibung schlägt man neue Wege ein: Bei der Vergabe fällt die Länge der Bauzeit diesmal stärker ins Gewicht. Normalerweise vergibt die öffentliche Hand ihre Jobs an den Bieter mit dem günstigsten Angebot. Nun belohnt die Behörde Tempo. Wird die Brücke früher fertig, gibt es obendrein einen Bonus, bei Verzug Abzüge.
Dass die Bauindustrie sich darauf einlässt, liegt an einer weiteren Besonderheit: Erstmals gibt es eine sogenannte „funktionale Ausschreibung“, bei der die Rollen zwischen Bauwirtschaft und Autobahn GmbH neu verteilt sind. Das Bauunternehmen plant den Brückenbau eigenständig und führt ihn dann nach seinen eigenen Plänen aus. Heißt also: mehr Verantwortung für die Baufirmen, weniger Planungsarbeit für die Autobahn GmbH. Klassischerweise hätte sie den Plan gemacht, den die Baufirmen dann umsetzen müssen.
Anfang Juli 2023, noch während der Schutt der alten Brücke abtransportiert wird, fällt die Entscheidung für den Neubau: Das Bieterkonsortium Habau, MCE und Bickhardt bekommt den Auftrag. „Sie hatten die kürzeste Bauzeit und das beste Konzept“, sagt Sauerwein-Braksiek. Habau hat schon in ganz Europa Brücken hochgezogen, zuletzt haben die Österreicher in Berlin den nördlichen Autobahnring saniert und ausgebaut, dabei allein 20 Brücken teils erneuert – fristgerecht.
„Unser Aufwand für die Bewerbung war immens“, sagt Andreas Jancar, Ingenieur und technischer Leiter des Gesamtprojekts bei Habau. „Wir sind tief in die Planungen eingestiegen, haben Konzepte erstellt, Bauzeiten kalkuliert, ein Ingenieurbüro beauftragt.“ Für diese Vorleistungen erhielt jeder Bewerber in der Endrunde 200 000 Euro. Die Kosten decke das nicht, sagt Jancar.
Baubeginn in Lüdenscheid ist der 1. Oktober 2023, so steht es im Vertrag. Drei Monate, um startklar zu sein. „Machbar war das nur“, erzählt Jancar, „weil wir einfach in der heißen Auswahlphase weitergeplant haben.“ Sechs Wochen auf eigenes Risiko – so lange wussten sie nicht, ob sie sich gegen zwei andere Bewerber durchsetzen. So aber kann das Konsortium schon im August die ersten Pläne zur Prüfung einreichen.
Bei der Bauzeit sei ohnehin alles ausgereizt, ist Jancar überzeugt: viele Mitarbeiter, viel Material; so schlagen sie etwa parallel an beiden Brückenköpfen Zelte auf, in denen Stahlträger geschweißt und behandelt werden. Auch wenn man, sagt Jancar, sieben Tage die Woche 24 Stunden durchgeackert hätte (statt sechs Tage von Sonnenauf- bis -untergang), wäre die Brücke kein halbes Jahr früher fertig. Beton muss aushärten, der Stahl für die Brücke erst gefertigt werden, die Planung in den Büros weitergehen.
Rund 170 Mio. Euro wird die Brücke nun kosten. Noch vor ein paar Jahren schätzte die Autobahn GmbH einen Ersatzbau auf rund 80 Mio. Euro. Ganz generell sind die Baukosten seither davongaloppiert, und auch das hohe Tempo hat seinen Preis. In Zeiten, wo Planer und Bauleute knapp sind, können Anbieter hohe Preise aufrufen. Und doch relativiert sich die Summe, wenn man die Kosten für die Stadt Lüdenscheid, die Wirtschaft und die Menschen dagegenhält. Jeder Monat ohne Brücke kostet Stadt und Region rund 25 Mio. Euro durch geringere Umsätze und verlorene Arbeitsplätze, schätzt das Münchner Wirtschaftsforschungsinstitut Ifo in einer Studie. Reduziert sich die Bauzeit der Brücke nur um ein Jahr, ist das eine Ersparnis von 300 Mio. Euro. Bei vier Jahren Vorsprung beträgt die Ersparnis sogar 1,2 Milliarden – bei einer einzigen Brücke. Für lfo-Präsident Clemens Fuest ist die Schlussfolgerung klar: „Wir dürfen es nicht mehr so weit kommen lassen.“
SCHALLSCHUTZFENSTER
Pragmatisch kümmert sich die Politik im Fall Lüdenscheid auch um die lärmgeplagten Bürger. So übernimmt der Bund die Kosten für Schallschutzfenster bei Anwohnern, denen nun Autos und Lkw vor dem Haus vorbeidonnern. Normalerweise wäre das Ländersache gewesen, denn die Umleitung führt über Landstraßen. Doch statt sich im Zuständigkeitsstreit zu verheddern, ändert die Ampelkoalition auch das Fernstraßenverkehrsgesetz, damit der Bund die Kosten übernehmen kann. Selbst für die notleidende Wirtschaft gibt es unbürokratisch Hilfe. Das Land NRW ruft einen günstigen „Universalkredit A45“ inklusive eines Zuschusses ins Leben. Ihn bekommt, wer spürbare Einbußen oder höhere Kosten hat. 151 Unternehmen beantragen das Paket. Gut 52 Mio. Euro zahlt die NRW-Bank aus.
Keine vier Jahre ist die Brückensperrung nun her. Bald ist der Ersatz fertig, in der Stadt zählen sie schon die Tage. Was also lehrt der Neubau zu Lüdenscheid?
Der Berliner Minister, mittlerweile aus dem Amt geschieden, ist mit sich zufrieden. Man dürfe sich eben nicht wegducken, sagt Volker Wissing quasi zum Abschied. Es mache doch einen Unterschied, wenn ein Minister ein Projekt zur Chefsache erklärt. Auch wenn, das muss man hinzufügen, er in der Fraktion und Partei oft auf Unverständnis stieß: Warum hängt der sich so rein, warum will der so viel Geld ausgeben – für die Bahn, für die Brücken, für die Straßen? Über das Geldausgeben zerbrach am Ende die gesamte Koalition, und Wissing brach mit seiner Partei. Sein Nachfolger wird es nun einfacher haben – Sanierungen sollten die nächsten Jahre nicht mehr am Geld scheitern.
Für Sauerwein-Braksiek lautet die Lehre vor allem: Pragmatismus statt Bürokratismus. Soll jede Baustelle so schnell laufen wie in Lüdenscheid, müsse das Bau- und Verwaltungsrecht noch weiter entschlackt und die Zahl der beteiligten Ämter reduziert werden, sagt die örtliche Autobahnchefin. Behörden bräuchten klare Fristen, bis wann sie etwas zu genehmigen haben. Und sie müssten dafür natürlich entsprechend ausgestattet werden – mit Personal und Sachverstand.
Für den Ökonomen Clemens Fuest ist die Rechnung ohnehin klar: Angesichts von rund 52 000 Brücken im Bundesfernstraßennetz, die alle früher oder später saniert werden müssen, „lohnt sich sorgfältiges Nachdenken darüber, wie wir unsere Infrastruktur behandeln“, sagt er.
Lüdenscheids Bürgermeister Sebastian Wagemeyer, der Brückenbeauftragte, freut sich derweil schon auf den Tag, an dem der Verkehr wieder hoch oben auf der Autobahn über die Dächer der Stadt fließt. Lüdenscheid, sagt er, habe Glück im Unglück gehabt. Es sei ein Glück gewesen, dass ihre Brücke die erste war, die nicht mehr trug. Er ist überzeugt: Nie wieder werde es so viel Aufmerksamkeit und Aufwand wegen einer einzigen Brücke geben.
Bildunterschriften
Es geht voran bei der Rahmedetalbrücke in Lüdenscheid
2 035 Ladungen sprengten 2023 die marode Brücke
Sebastian Wagemeyer, Bürgermeister von Lüdenscheid
Elfriede Sauerwein-Braksiek, Chefin der Autobahn GmbH Westfalen
Material für die nächsten Abschnitte auf der Baustelle
Volker Wissing bei der Stahlhochzeit im Februar
Ungünstige Lage: Unter der Brücke stehen Häuser und eine Fabrik
Info-Kästen
Zeitleiste
1965–1968
Bau der Rahmedetalbrücke auf der A45 in Lüdenscheid
2011–2017
Überprüfungen ergeben starke Schäden. Die Brücke soll verstärkt werden – das bleibt jedoch aus. Ab 2014 wird ein Ersatzbau geplant, 2017 soll Baubeginn sein. Der Neubau wird mehrfach verschoben
02.12.21
Die Brücke wird sofort für den gesamten Verkehr gesperrt. Einsturzgefahr
08.12.21
Volker Wissing (FDP) wird Bundesverkehrsminister
07.05.23
Sprengung der maroden Brücke, monatelanger Abtransport
25.05.23
2. Runde der Ausschreibung: Drei Bewerber sind in der engen Wahl
04.07.23
Vergabe an Habau, MCE, Bickhardt. Kosten 170 Mio. Euro
05.10.23
Baubeginn der neuen Talbrücke
25.02.25
Der Stahlüberbau steht, die Stadt feiert Stahlhochzeit
Frühjahr 2026
geplante Wiedereröffnung des ersten Fahrbahnabschnitts