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„Baba, bist du arbeitslos?“

von Kathrin Werner und Christina Kunkel
Süddeutsche Zeitung vom 12.10.2024

Inhalt: Der Artikel beschreibt die tiefgreifenden wirtschaftlichen und sozialen Auswirkungen der aktuellen VW-Krise und möglicher Werksschließungen am Beispiel des VW-Werks Baunatal. Themen sind die Unsicherheit der Beschäftigten, die Rolle von Politik, Gewerkschaften und Management sowie die Notwendigkeit für den Industriestandort, sich unabhängiger und zukunftsorientiert aufzustellen.

Sie sehen hier den reinen Text in der anonymisierten Form für die Jury. Bilder, Layout oder multimediale Umsetzung sind beim Deutschen Journalistenpreis kein Bewertungskriterium. Allein das Wort zählt. Tabellen und Grafiken werden in einem separaten PDF zugänglich gemacht.


„Baba, bist du arbeitslos?“

VW steckt in einer historischen Krise. Was der Niedergang dieser Industrie-Ikone bedeutet, zeigt sich im zweitgrößten Werk in Baunatal bei Kassel. Dort hängt eine ganze Stadt am Auto.

Timur Ortac hat nicht viel Zeit. Seine Schicht als Logistiker in der backsteinroten Fabrik beginnt in ein paar Minuten. Wenn er um 22.30 Uhr wieder herauskommt, werden die riesigen Buchstaben auf dem Werksdach leuchten bis weit über die Grenzen der kleinen nordhessischen Stadt Baunatal hinaus: VOLKSWAGEN.

Ortac ist seit 14 Jahren bei VW. Seine Frau arbeitet auch hier. Sie haben vier Kinder, ein Haus, einen Kredit abzubezahlen. Der Bank habe es damals gefallen, erzählt der 45-Jährige, dass die beiden sichere VW-Arbeitsplätze haben, gute Gehälter. Aber die Zeiten sind vorbei. „Baba, bist du arbeitslos?“, fragte sein zehnjähriger Sohn ihn neulich.

Es ist 14.30 Uhr, Schichtwechsel. Ortac und Hunderte andere Arbeiter schlendern durch das Werkstor hinein, letzte Kippen vor Schichtbeginn, Schulterklopfen, Begrüßungen. „Hey, Alter.“ „Wie geht’s, Mann?“ „Salam aleikum.“ Ein paar Minuten später lässt die Fabrik die Frühschicht heraus. Hunderte Arbeiter strömen durch das Werkstor, erste Feierabendkippen, Schulterklopfen, Abschiede bis zur nächsten Schicht. „Tschüss dann.“ Dann sausen sie mit ihren Golfs, Tiguans und T-Rocs vom Firmenparkplatz.

Wenn Menschen an die Krise bei VW denken, denken sie an Wolfsburg, diese mit dem Konzern so verwobene Stadt. An Hannover, vielleicht noch an die ostdeutschen Werke, an Zwickau, an die gläserne Manufaktur in Dresden. Doch das zweitgrößte VW-Werk in Deutschland steht in Baunatal bei Kassel, einer kleinen Stadt, die außer VW fast nichts hat. Hier kann man sehen, was es bedeutet, wenn der mit riesigem Abstand größte Arbeitgeber der Region ins Straucheln kommt. Wenn eine Fabrik, die einst das Wirtschaftswunder brachte, plötzlich zum Symbol für den drohenden Niedergang der deutschen Industrie wird. Wenn die Angst umgeht.

16 500 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter bauen in Baunatal Getriebe, Elektroantriebe, Karosserieteile, Abgasreinigungsanlagen, Getriebegehäuseteile. Wenn die Produktion in Baunatal nicht läuft, stehen in den anderen VW-Werken die Bänder still. Und trotzdem fragen sich die Menschen hier und in den anderen deutschen VW-Fabriken, ob und wie lange es ihre Jobs noch geben wird.

Man muss die Zahlen einmal sortieren, um zu verstehen, warum jetzt gerade über die Schließung deutscher Werke spekuliert wird. Denn ja, der VW-Konzern mit seinen zehn Marken und weltweit rund 675 000 Beschäftigten macht noch immer Milliardengewinne. Doch bei der Volkswagen AG, die die Autos mit dem klassischen VW-Logo baut und für die in Deutschland rund 120 000 Menschen arbeiten, sieht es deutlich schlechter aus. Die Einnahmen reichen nicht mehr, um nötige Investitionen gegenzufinanzieren. Das Unternehmen gab zuletzt mehr Geld aus, als es einnahm.

VW verkauft in Europa pro Jahr rund 500 000 Autos weniger als noch vor der Corona-Pandemie. Für die deutschen Fabriken heißt das: Sie sind nicht annähernd ausgelastet, die Arbeit reicht nicht für all die Beschäftigten. Manche aus dem Konzern sagen, der ein oder andere Standort in Deutschland sei schon länger ein Minusgeschäft gewesen. Bisher hätten die hohen Gewinne aus dem China-Geschäft das bloß kaschiert. Doch die sind nun eingebrochen, weil VW dort von einheimischen Herstellern überholt wurde.

Der VW-Vorstand sieht keinen anderen Ausweg mehr, als Jobs zu streichen, deshalb hat er Anfang September die Jobgarantie für die Mitarbeiter gekündigt. Noch nie hat VW ein Werk in Deutschland geschlossen, jetzt könnte der Zeitpunkt gekommen sein. Die Management-Rechnung lautet: 500 000 Autos, die VW an Aufträgen fehlen, entsprechen etwa der Kapazität von einer größeren Fabrik. Wer weniger Autos baut, braucht auch entsprechend weniger Teile. Und damit ist man wieder in Baunatal, wo sie zwar keine Fahrzeuge zusammensetzen, doch die Komponenten dafür herstellen.

Timur Ortac, der von seinem Sohn gefragt wurde, ob er nun arbeitslos sei, sagt: „Wenn die Manager Scheiße bauen, muss der Arbeiter weichen.“ Aber er will optimistisch bleiben, sie hätten doch gut zu tun hier, es gibt gerade sogar Extraschichten, weiterhin neue Leiharbeiter. Und es sei einfach unvorstellbar, dass das Werk schließt. „Das betrifft dann nicht nur die 15 000 Mitarbeiter, das betrifft 150 000 Menschen, die ganze Region.“

VW und Baunatal, das gehört zusammen, ohne das Werk gäbe es die Stadt nicht. Sieben Dörfer im Tal des Flüsschens Bauna wurden eine Stadt, weil sie nur gemeinsam mit dem Zuzug der vielen VW-Arbeiter zurechtkamen. In Baunatal lässt sich die Geschichte der alten Bundesrepublik nachzeichnen, eine Geschichte vom schnellen Aufschwung aus den Trümmern, von goldenen Jahrzehnten – und zuletzt eher vom langsamen Abstieg. VW übernahm 1957 die zerbombten Hallen des alten Henschel-Flugmotorenwerks, an denen einst die Hakenkreuzfahnen geweht hatten. Kaufpreis: 6,5 Millionen D-Mark.

Im Stadtarchiv kann man sich die Bilder der westdeutschen Zeitläufe ansehen: die Frauen, die 1945 auf den Wiesen vor den zerstörten Henschel-Fabrikhallen Heu ernteten. Dann das Trümmersammeln, die Anlieferung der roten VW-Klinker. Der plötzlich wieder volle Werksparkplatz mit NSU- und Zündapp-Motorrädern. Die Männer mit langen Koteletten, die per Hand Karosserieteile für den Käfer fertigen. Die Gastarbeiter. Das neue Baugebiet am Baunsberg mit den Arbeiterwohnblöcken. Das Fußballspiel im Jahr 1968, bei dem die Planungs- gegen die Einkaufsabteilung antrat, in sehr kurzen Sporthosen. Die Hallen, die immer größer wurden und in denen immer mehr moderne Maschinen die Arbeit übernahmen.

Mitarbeiterzahl 1958: 855. Mitarbeiterzahl 1965: 13 667. Mitarbeiterzahl 1992: 16 203. Zum 50. Geburtstag gab VW einen dicken Bildband heraus mit dem Titel „Die Menschen. Das Werk. Eine Zukunft“. Es enthält Porträts aller Mitarbeiter, Tausende Gesichter, von Manuel Abdo bis Michael Zwirner.

„Wir haben immer gesagt, dass wir bei Volkswagen eine Familie sind“, sagt Carsten Büchling. „Dieses Familienbild ist jetzt komplett zerrüttet. Der Vorstand macht ja den Elternteil aus. Aber welche Eltern gehen so um mit ihren Kindern?“ Büchling ist Chef des Betriebsrats in Baunatal, ein Gewerkschaftshaudegen, 53 Jahre alt, nächstes Jahr ist er 25 Jahre im Betriebsratsvorstand. „Büchling feiert Silberhochzeit“, sagt er im Video-Interview. „Das wäre doch eine schöne Headline.“ Büchlings Vater war schon bei VW, auch sein Sohn hat dort gelernt. So geht es vielen Familien, die eine Generation holt die nächste nach, schließlich war es mit VW in Baunatal bislang so wie mit dem Käfer, dessen Teile sie hier bauten: Läuft und läuft und läuft.

Ein paar Topfpflanzen, gelber Teppichboden, an der Wand die roten Gewerkschaftswimpel mit Wörtern, die Büchling wichtig sind: Respekt. Solidarität. Von seinem Büro aus blickt er hinab auf das Werkstor. Manchmal steht er am Fenster, wenn er zur richtigen Zeit ein Telefonat führt, und beobachtet dabei den Schichtwechsel, das Kommen und Gehen, 90 Prozent der Beschäftigten sind Mitglied der IG Metall. Seit der historischen Zäsur, seit das VW-Management die Jobgarantie aufgekündigt hat, sind mehr als 500 Mitarbeiter in Baunatal neu in die Gewerkschaft eingetreten. Jeden Tag sammeln sie Dutzende neue Eintrittserklärungen ein. „Alle werden unruhiger, je länger es dauert“, sagt Büchling.

Er versucht, die größten Ängste zu nehmen, aber auch Kampfeslust zu schüren und an eines seiner Lieblingswörter zu erinnern: Solidargemeinschaft. „Wir akzeptieren keine Werksschließungen, und mit uns gibt es auch keine Massenentlassungen“, sagt er. Nicht nur in Baunatal, sondern nirgendwo in Deutschland. An der Misere seien nicht die Arbeiter schuld, sagt er, sondern das Management: die China-Strategie, die Elektro-Strategie, die falschen und zu teuren Modelle. Also nicht aufgeben jetzt, keine Kompromisse eingehen, die sich hinterher rächen.

Selbst wenn am Ende kein Standort dichtgemacht wird, könnte VW von Mitte des kommenden Jahres an Mitarbeiter vor die Tür setzen. Dann endet die Jobgarantie. Ob es wirklich so weit kommt? Ende Oktober oder Anfang November wird es wohl die nächste Verhandlungsrunde zwischen Management und Arbeitnehmervertretern geben. Formell geht es um die Tarifrunde, also um mehr Geld für die VW-Beschäftigten. Tatsächlich geht es aber vor allem darum, ob der Vorstand sich noch von seinen radikalen Jobabbauplänen abbringen lässt. Ende November endet die Friedenspflicht. Dann könnten die VW-Mitarbeiter streiken. Vieles spricht dafür, dass es so kommen wird.

Carsten Büchling bekommt gerade viel Unterstützung, erzählt er, ständig klopft ihm einer auf die Schultern: „Danke für den Einsatz.“ Oder: „Halt durch!“ Das hilft ihm. Er sagt, „dass sich die ganze Region hinter die Beschäftigten stellt und nicht hinter den VW-Vorstand“. Am Nachmittag ist er noch zum Telefonieren mit Baunatals Bürgermeister verabredet.

Der heißt Henry Richter. Von Büchlings Büro am Werkstor fährt man entlang der Heinrich-Nordhoff-Straße, benannt nach dem Ex-VW-Chef, knappe fünf Minuten bis zum Rathaus. Vorbei am Hotel Scirocco, das einen alten VW Scirocco aufs Vordach montiert hat. Vor Richters Bürotür im fünften Stock hängt ein Bild mit einem schwarz-rot-goldenen VW-Käfer.

Der 55-Jährige hat den schwierigsten Start, den man sich für einen Bürgermeister vorstellen kann. Sein Amtsantritt war vor knapp vier Wochen, kurz nachdem die Manager in Wolfsburg verkündet hatten, dass ein deutsches Werk geschlossen werden könnte. „Damit hat, glaube ich, keiner gerechnet“, sagt er.

Richter kann die VW-Fabrik in Baunatal von seinem von Unkraut überwucherten Balkon des Rathauses sehen, seine schwierigste Aufgabe liegt also in Sichtweite. Eigentlich wollte sich der Bürgermeister mit Bauprojekten beschäftigen, mit nachhaltiger Stadtentwicklung. Im Moment aber gibt es vor allem ein Thema: VW. „Existenzängste machen sich breit“, sagt er. Nicht nur bei der VW-Belegschaft, sondern in der gesamten Stadt.

Neulich erzählte eine junge Familie dem Bürgermeister, dass sie überlegt, ihre Pläne für ihr Einfamilienhaus auf Eis zu legen. Der Metzger hat Angst, dass die Leute künftig am Fleisch sparen werden. Der Bäcker fürchtet, dass keiner mehr Brötchen kauft. „Die Kaufkraft wird ein Stück weit nach unten gehen“, sagt Richter. Er hat eine „Stabsstelle Wirtschaft“ ins Leben gerufen, die berechnen soll, welche Auswirkungen es hätte, wenn 3000 Stellen wegfallen oder 5000 oder gleich das ganze Werk.

Ein Ende von VW hätte „Multiplikatoreffekte“, sagt Guido Bünstorf, der das Fachgebiet Wirtschaftspolitik, Innovation und Entrepreneurship an der Uni Kassel leitet. Zulieferer machen dicht, immer weniger Kunden können sich die Dienste der Dienstleister leisten, das betrifft alle von der Putzhilfe bis zum Wedding Planner, Menschen ziehen weg, Immobilienpreise sinken und so weiter. Vergleichbar sei so ein Schock mit Ostdeutschland nach der Wende, wo riesige Arbeitgeber, ganze Kombinate, von einem Tag auf den nächsten verschwanden.

Sehr wahrscheinlich sei dieses Worst-Case-Szenario allerdings nicht, sagt Bünstorf. Nicht ausgeschlossen, dass VW mit Werksschließungen nur drohe, um die Gewerkschaft einzuschüchtern im Tarifstreit. Möglich sei auch, dass ein anderes Unternehmen das VW-Werk übernimmt. BYD aus China vielleicht. Es könne auch sein, dass der größte Schreck ausbleibt und VW im Wesentlichen so weitermacht wie vorher – das sei aber dann mittelfristig doch ein Problem, denn der Konzern brauche ja Veränderung, sagt Bünstorf.

Eine Sache ist da noch, die gegen den Standort Kassel spricht: 20 Prozent von VW gehören dem Land Niedersachsen, niedersächsische Politiker sitzen im Aufsichtsrat. „Sie sind als Aufsichtsratsmitglieder erst mal dem Wohl des Unternehmens verpflichtet. Aber natürlich stehen sie auch unter gewissem Druck aus Niedersachsen“, sagt Bünstorf. „Und da kann man jetzt schon spekulieren, ob ein Standort außerhalb Niedersachsens gefährdeter ist als einer innerhalb Niedersachsens.“ Für die Region gibt es so oder so nur eine Lösung, sagt der Wirtschaftsprofessor: Sie müsse sich von VW unabhängiger machen. „Die Region hat sich auch ein bisschen bequem eingerichtet. Die zentrale Frage muss jetzt sein: Woher kommen die Arbeitsplätze der Zukunft?“

Dass Baunatal eine VW-Stadt ist, sieht man auf den ersten Blick. Überall stehen hüfthohe, bunt angemalte VW Käfer in der Stadt, vor der Sparkasse, im Verkehrskreisel, vor der Polizeiwache, natürlich vor dem Werk und unten im Rathausfoyer.

Die rote Backsteinfabrik hat die Stadt, selbst aus rotem Backstein gebaut, reich gemacht. Lange waren die Kitas kostenlos. Es gibt sechs Sporthallen, zwei Schwimmbäder, fünf Tennisanlagen, das Parkstadion bietet Platz für 8500 Zuschauer. Alles für gerade einmal 29 000 Einwohner. Einer von Bürgermeister Richters Vorgängern tönte einmal: „Ich hab’ so viel Geld, dass ich meine Waldwege mit goldenen Platten auslegen kann.“ In der viel ärmeren Großstadt Kassel und im ganzen strukturschwachen Nordhessen blickte man lange mit Neid auf die kleine Nachbarstadt. Was kriegen die als Nächstes, eine Trabrennbahn, eine Skisprungschanze?

Doch Baunatals Träume von gold gepflasterten Waldwegen sind seit dem Dieselskandal ausgeträumt. VW verrechnete die Strafen und Rückstellungen so, dass der Konzern fast keine Gewerbesteuern mehr zahlen musste. „Unsere finanzielle Lage ist sehr schwierig oder sehr komplex, so würde ich es mal vorsichtig formulieren“, sagt Bürgermeister Richter. Kitas kosten inzwischen Geld, manche müssten renoviert werden. Das Sportbad ist seit vergangenem Jahr geschlossen, im Aquapark gibt es wegen Vandalismus keine Föhne mehr. Für die nächsten Jahre plant Richter ohne Gewerbesteuereinnahmen von VW.

Schräg gegenüber vom Rathaus liegt das Büro der Friedenskirche Altenbauna. Pfarrer Dirk Muth, 60, kennt die Hoffnungen und auch die Ängste der Menschen hier, er kann das Werk mit den großen Buchstaben auf dem Dach vom Gemeindesaal aus sehen, es liegt in seinem Gemeindegebiet. Er sagt: „Wenn VW hier verschwinden sollte, dann wäre das so etwas wie das Jüngste Gericht.“

Einschübe

Mit VW in Baunatal war es lange wie mit dem Käfer: läuft und läuft und läuft

Wenn VW hier weggeht, wäre das wie „das Jüngste Gericht“, sagt der Pfarrer

Bildunterschriften

In Baunatal lässt sich die Geschichte der alten Bundesrepublik nachzeichnen, eine Geschichte vom schnellen Aufschwung aus den Trümmern, von goldenen Jahrzehnten – und zuletzt eher vom langsamen Abstieg.

Carsten Büchling, Chef des Betriebsrats in Baunatal, kämpft für den Erhalt des Standorts.