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Auf der Spur des Jokers

von Leon Kirschgens
brand eins vom 01.09.2024

Inhalt: Hoffnungen der deutschen Industrie und Politik ruhen auf teurem grünem Wasserstoff aus der namibischen Wüste, die Reportage folgt seiner Importroute nach Deutschland. Probleme bereiten Umweltauflagen im Nationalpark und die Ausbildung der namibischen Bevölkerung zu Fachkräften, es fehlen Transport- und Infrastrukturkapazitäten sowie Produktionsanlagen.

Sie sehen hier den reinen Text in der anonymisierten Form für die Jury. Bilder, Layout oder multimediale Umsetzung sind beim Deutschen Journalistenpreis kein Bewertungskriterium. Allein das Wort zählt.


Auf der Spur des Jokers

Grüner Wasserstoff gilt als Schlüssel zur Energiewende. Der Großteil soll importiert werden. Kann das funktionieren? Und wer profitiert davon? Eine Reportagereise von der namibischen Wüste bis in die norddeutsche Provinz.

Die Reise zum Anfang der Lieferkette endet an einem klapprigen Gittertor in der Wüste, rund 8.500 Kilometer Luftlinie südlich von Deutschland. Eigentlich ist es verboten, das Metalltor am Ende der staubigen Schotterpiste zu passieren. „NO UNAUTHORIZED ENTRY“, prangt auf dem blauen, schief stehenden Schild neben dem Tor. Die Sonne knallt vom Himmel, über dem Sand flimmert die Hitze. Heinz Manns, 62 Jahre alt, ein hochgewachsener Mann mit Ohrring und Halbglatze, steigt vor dem Tor aus seinem Geländewagen und öffnet das Kettenschloss. Eine kurze Funkfreigabe, dann darf er weiterfahren.

Er ist Touristenführer und einer der wenigen Menschen, die das Gebiet an der Atlantikküste im Südwesten Afrikas betreten dürfen. Deutsche Kolonialherren entdeckten hier, in der namibischen Wüste, vor mehr als hundert Jahren Diamanten und bauten sie ab. Das Areal ist seit 2008 ein Nationalpark, aber als Sperrgebiet ausgewiesen, um Diamantensucher abzuschrecken. Manns lebt in dritter Generation deutscher Auswanderer in Namibia. „Außer mir hat sich früher kaum jemand in diese Weiten der Wüste verirrt“, erzählt er.

Das hat sich in den vergangenen Jahren geändert. Manns lenkt den Wagen über einen Hügel, im Rückspiegel verschwindet das Gittertor im aufwirbelnden Staub. Er folgt der kerzengeraden Piste Richtung Süden, das Wüstental erstreckt sich bis an den Horizont. Maximal 80 Kilometer pro Stunde sind auf dem Schotter erlaubt. „Mittlerweile sehe ich hier ab und zu fremde Jeeps durch die Landschaft brettern“, erläutert Manns. „Das sind Delegationen von Wissenschaftlern und Geschäftsleuten.“

Ausgerechnet die namibische Wüste, in der Manns’ Vorfahren einst nach Diamanten suchten, wird nun wieder zum Kristallisationspunkt deutscher Hoffnungen. Es geht um das große Ganze, um die Energiewende, das Klima, aber auch um unseren Wohlstand. Deutschland ist ein Industrieland. Wir produzieren Autos, Maschinen und chemische Produkte. All das kostet viel Energie. Und die soll künftig auch aus der Wüste Namibias kommen.

Die Bedingungen dort sind nahezu perfekt. In manchen Gebieten des Tsau-Khaeb-Nationalparks weht der Wind das ganze Jahr, die Sonne scheint an rund 300 Tagen. Bald schon sollen hier Windräder und Sonnenkollektoren sieben Gigawatt Strom pro Jahr produzieren, etwa so viel wie sieben Atomkraftwerke. Als grüner Wasserstoff soll die Energie dann nach Deutschland kommen – und eine Schlüsselrolle dabei spielen, unsere Wirtschaft klimaneutral zu machen. „Investitionen in Wasserstoff sind eine Investition in unsere Zukunft“, sagte Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck im Sommer des vergangenen Jahres anlässlich der Fortschreibung der Nationalen Wasserstoffstrategie.

Das Problem dabei: Der grüne Wasserstoff muss irgendwie nach Deutschland kommen. Schon in wenigen Jahren sollen die ersten Tanker in deutschen Häfen einlaufen. Doch ist das überhaupt realistisch? Oder handelt es sich um das, was [anderes Medium] im März 2024 einen „Wasserstoff-Bluff“ nannte? Die Technik sei eine große Verheißung, hieß es, die uns im sicheren Gefühl wiege, mit dem Wasserstoff-Joker werde die Energiewende schon gelingen – obwohl die Infrastruktur dafür noch gar nicht stehe und die vielen Milliarden Euro an Subventionen anderswo besser eingesetzt wären.

Diese Frage ist nicht leicht zu beantworten. Der Traum vom grünen Wasserstoff beflügelt die Fantasien von Politikerinnen und Investoren. Fragt man nach, wie genau er Wirklichkeit werden soll, bleibt vieles vage. Im Fall von Namibia aber kann man es konkret machen. Man kann die Route nehmen, auf der grüner Wasserstoff schon in ein paar Jahren transportiert werden soll, Station für Station, von der Wüste bis in die norddeutsche Provinz.


Etappe 1: Durch die Wüste, aus der Wasserstoff kommen soll

Zwei Autostunden südlich des Gittertors, mitten im Nationalpark, nimmt Heinz Manns eine Hand vom Lenkrad und deutet aus dem Seitenfenster. Am Horizont ragt ein Mast in die Höhe. „Er misst unter anderem Windgeschwindigkeit, Temperaturen und Luftdruck und ermittelt den besten Standort für die Stromerzeugung“, erklärt er. Drum herum erstreckt sich eine Wüstenlandschaft, die nur von der Schotterpiste und vereinzelten Sandhügeln unterbrochen wird. Am Himmel ist keine einzige Wolke zu sehen.

Manns steht nun mitten in jenem Wüstenareal, das für die Wasserstoffproduktion vorgesehen ist – 4.000 Quadratkilometer, fast fünfmal so groß wie Berlin. Die namibische Regierung will hier eine gigantische Anlage errichten lassen. Sein Land wolle einen Prozess in Gang setzen, der das Potenzial habe, „das Leben vieler Menschen in unserem Land, in der Region und sogar in der Welt zu verändern“, sagte der ehemalige und mittlerweile verstorbene namibische Präsident Hage Geingob, als er das Vorhaben 2023 öffentlich verkündete.
Bereits im November 2021 bekam ein Konsortium aus dem britischen Investor Nicholas Holdings und Enertrag, einem mittelständischen Energiebetreiber aus dem brandenburgischen Dauerthal mit rund 1.000 Mitarbeitern, in einem Auswahlverfahren den Zuschlag. Kurz zuvor hatten die beiden Firmen ein Joint Venture gegründet, Hyphen Hydrogen Energy, kurz Hyphen. Das Unternehmen soll nun das Mammutprojekt stemmen und rund zwölf Milliarden Dollar investieren. Die Summe entspricht etwa dem jährlichen Bruttoinlandsprodukt von Namibia. Einen kleinen Teil finanziert das Konsortium selbst, der Großteil kommt von Investoren und Krediten, unter anderem von der Development Bank of Southern Africa. Die namibische Regierung ist ebenfalls Anteilseignerin und besitzt 24 Prozent des Projekts.

In animierten Videos von Hyphen kann man sehen, was in der Wüste entstehen soll. Es ist laut dem Konsortium das bislang größte und einzige grüne Wasserstoffprojekt in Afrika südlich der Sahara, das alle Produktionsschritte selbst umsetzt. Der von 600 Windrädern und etlichen Sonnenkollektoren erzeugte Strom soll in Hallen geleitet werden und dort auf entsalztes Wasser treffen, das durch eine rund 80 Kilometer lange, oberirdische Pipeline von der Küste in die Wüste gepumpt werden soll.

Der Strom spaltet dann das Wasser in seine beiden Bestandteile auf: Wasserstoff und Sauerstoff. Den Vorgang nennt man Elektrolyse. Dabei entweicht der Sauerstoff, der Wasserstoff wird abgeschöpft und dient nun als Speicher für die erzeugte Energie. Weil sie in der namibischen Wüste aus Wind- und Sonnenkraft gewonnen werden soll, handelt es sich um grünen Wasserstoff.

Steht man in der Wüste, könnte der Kontrast zu den Videos kaum größer sein. Außer dem Mast am Horizont sieht man nur Sand, Steppe und knorrige Pflanzen. Drei Jahre nach Beginn des Projekts wurde noch nichts gebaut.

Wie kann das sein? In der deutschen Uckermark, eingerahmt von Wiesen, Feldern und einem großen Parkplatz voller Tesla-Autos, liegt der Firmensitz von Enertrag in einem blauen Bürogebäude. Hier soll Tobias Bischof-Niemz, ein 47-jähriger Manager, das Projekt vorantreiben. Er ist Mitglied des Vorstands – und eigentlich ein zupackender Typ. Doch er muss sich gedulden. Den Zeitplan, auf den er am Laptop deutet, mussten er und sein Team anpassen. „Als wir uns auf die Ausschreibung der namibischen Regierung beworben haben, war es unser Plan, ab 2027 grünen Wasserstoff zu produzieren“, sagt Bischof-Niemz. Allerdings habe es bei der Prüfung bis hin zur Entscheidung Verzögerungen gegeben. „Der Prozess hat lange gedauert, sodass wir ein Jahr hinter dem Plan sind.“ Nun soll erst ab 2028 exportiert werden. Doch auch dieser Zeitplan, meint Bischof-Niemz, sei ambitioniert – und nur einzuhalten, wenn alles glattgehe.

Neben der namibischen Bürokratie hat Hyphen auch mit dem Umweltschutz zu kämpfen. Die Wüste wirkt zwar wie ein lebensfeindlicher Ort, doch das stimmt nicht. „Der Nationalpark beherbergt ein Viertel aller Pflanzenarten Namibias“, berichtet Jean-Paul Roux, ein pensionierter Biologe, der die Flora des 2,2 Millionen Hektar großen Nationalparks seit vielen Jahren erforscht. Mit Anfang 30 ist er aus Frankreich nach Namibia ausgewandert. Nun, mit 68 Jahren, sieht er das Wasserstoffprojekt wegen der möglichen Umweltschäden kritisch.

Er fürchtet um die seltenen Vogelarten, zum Beispiel die Ludwigstrappe. Die grau-braunen Vögel sind so groß wie Störche, können fliegen und leben überwiegend in Namibia und Südafrika. Bereits jetzt gelten sie als stark gefährdet, auch weil sie immer wieder an Stromleitungen verenden. Schützen müsse man auch die 31 Pflanzenarten, die es an keinem anderen Ort der Welt gebe, sagt Roux. Mit dem Bau von Stromleitungen, Anlagen und Straßen könnte ein Teil dieser einzigartigen Natur verloren gehen.

Ist diese Sorge gerechtfertigt? Klarheit soll eine Untersuchung unabhängiger Wissenschaftler bringen, die Hyphen beauftragt hat. Bis zum Frühjahr 2025 sollen sie herausfinden, wie groß der Schaden für die Natur wäre.

Das bedeutet aber auch: Bis dahin passiert im Nationalpark erst mal wenig.


Etappe 2: Von der Wüste an die Küste – Entfernung: rund 80 Kilometer

Ist der Wasserstoff einmal produziert, soll er über Pipelines an die Küste transportiert werden. Heinz Manns dreht mit dem Geländewagen eine Schleife und folgt der Piste wieder Richtung Norden. Sie führt in dieselbe Richtung, die auch die Pipelines nehmen sollen.
Auf der Angra-Spitze, einer Halbinsel rund 80 Kilometer nordwestlich der geplanten Anlagen in der Wüste, sollen die Rohre einmal enden. Die Wüste stößt hier zwischen steinigen Hügeln auf die Küste. Am Ende einer breiten Schotterpiste steht ein Leuchtturm, von dem man über die gesamte Halbinsel blickt. Einheimische besuchen ihn, um den Sonnenuntergang anzuschauen, Touristen übernachten auf dem angrenzenden Campingplatz mit Meerblick. In der Bucht stelzen Flamingos durch das flache Wasser, manchmal kann man Delfine beobachten.

Hier soll, so ist es auf den Animationen von Hyphen zu sehen, in ein paar Jahren ein großes Industriegebiet entstehen. Denn grüner Wasserstoff in seiner natürlichen Form lässt sich nur schwer transportieren. Aus den Rohren kommt er zunächst als farbloses Gas. Doch um dieses auf Schiffen bis nach Deutschland zu bringen, müsste man es auf minus 253 Grad Celsius kühlen, damit es flüssig wird. Das aber ist ein aufwendiger und energieintensiver Vorgang, für den noch keine etablierte Infrastruktur existiert. Deshalb bedient man sich eines Tricks: Man verwandelt den Wasserstoff in Ammoniak, das sich schon bei minus 33 Grad Celsius verflüssigt.

Im Industriegebiet auf der Halbinsel soll daher eine Anlage zur Umwandlung von Wasserstoff in Ammoniak entstehen. Das Herzstück einer solchen Syntheseanlage ist ein zylindrischer Behälter aus Metall, von dem Leitungen ausgehen. Die Anlage saugt Stickstoff aus der Umgebungsluft und fügt ihn bei 450 Grad Celsius und einem Druck von 200 Bar in einem Katalysator dem Wasserstoff hinzu. So entsteht Ammoniak. In einer weiteren Anlage wird dieses für den Schiffstransport gekühlt und verflüssigt. Von dort gelangt das Ammoniak in vier angrenzende Speicher, jeder so groß wie ein mehrstöckiges Gebäude. Die Chemikalie ist das, was Wissenschaftler ein Wasserstoffderivat nennen. Man kann aus dem einen Stoff den anderen gewinnen und umgekehrt.

Ammoniak wird nicht nur als Energieträger gebraucht, sondern schon lange für viele andere Zwecke genutzt: Nach Schwefelsäure ist es die am häufigsten produzierte Chemikalie der Welt. Sie steckt unter anderem in Medikamenten, Reinigungsmitteln und Kraftstoffen. Schätzungsweise die Hälfte aller produzierten Lebensmittel hängt von Dünger ab, der auf Ammoniak basiert. In großen Mengen schädigt es allerdings Böden und Ökosysteme. Ein zusätzliches Problem: Die Herstellung ist sehr energieaufwendig. Pro Tonne entsteht im Schnitt mehr CO2 als bei der Produktion von Stahl oder Zement. Sollte also künftig grün erzeugtes Ammoniak aus der Wüste Namibias das konventionell hergestellte ersetzen, würden zusätzlich Emissionen vermieden.


Etappe 3: Das verschlafene Städtchen Lüderitz – Entfernung: Luftlinie rund drei Kilometer zur Küste

Von der Halbinsel schlängelt sich eine unbefestigte Straße Richtung Norden, mit dem Auto ist man rund 20 Minuten unterwegs bis nach Lüderitz, dem einzigen Städtchen weit und breit.

1884 wurde der Küstenstreifen Lüderitzland – das heutige Namibia – als Deutsch-Südwestafrika vom Deutschen Reich unterworfen und blieb bis Ende des Ersten Weltkriegs eine deutsche Kolonie. Noch heute prägen Bauten der Kolonialzeit die Stadt. Entlang der Hauptstraßen stehen Fachwerkhäuser im Jugendstil, über einem steht der Schriftzug „Lesehalle“. Wovon man allerdings nichts mehr sieht, ist das Konzentrationslager, das die Deutschen hier 1904 errichteten. In ihm wurden Angehörige der Volksgruppe Nama auf engstem Raum zusammengepfercht. Mehr als 2.000 wurden interniert, die meisten von ihnen starben in kurzer Zeit an Krankheiten und Mangelernährung.

Heute hat Lüderitz rund 16.000 Einwohner. Die meisten leben in Wellblechhütten in einem der Townships auf den Hügeln rund ums Stadtzentrum. Viele haben kein fließendes Wasser und keinen Stromanschluss. Eine von ihnen ist die 22-jährige Ottilie Shiku. Sie macht gerade ihren Schulabschluss. Wie viele Menschen in den Townships hofft sie, bei dem Wasserstoffprojekt einen Job zu finden. „Wir wissen nur wenig, aber ich hoffe, dass das Projekt vor allem den Menschen hier in Lüderitz zugutekommt“, sagt sie. „Manche befürchten jedoch, dass überwiegend gut ausgebildete Fachkräfte mit viel Geld herziehen – und mit ihnen auch die Preise in Lüderitz steigen.“

Ob diese Sorgen berechtigt sind, wird sich zeigen. Allein für den Bau der Anlagen werden 15.000 Arbeiter benötigt, 3.000 davon dauerhaft. Wenn sie ihre Familien mitbringen, wird Lüderitz um ein Vielfaches wachsen. „Manche reden von bis zu 100.000 Menschen“, erklärt Asser Ndako Mukapuli. Der 70-Jährige ist ein bekanntes Gesicht in der Stadt. Die Leute grüßen ihn, als er durch die vollen Gassen des gerade stattfindenden Straßenfests schlendert. Der pensionierte Chemiker arbeitet ab und zu als Koch und Reiseleiter. „Eigentlich sind die vollen Straßen während des Fests für uns die Ausnahme“, meint er, „aber bald könnte es der Normalzustand werden.“ Lüderitz wäre kein verschlafenes Städtchen mehr, sondern das Zentrum eines neuen Wirtschaftszweiges.

Die große Frage ist: Wer wird davon profitieren? Die Antwort ist auch für Deutschland heikel. Alles, was nun in Namibia aufgebaut werde, sehe er auch im „Lichte der Geschichte“, sagte Vizekanzler Robert Habeck 2022 während einer Kurzreise durch die ehemalige Kolonie. Und es stimmt ja: Sollten die Menschen in Lüderitz am Ende leer ausgehen, könnte es leicht so wirken, als würde sich eine ehemalige Besatzungsmacht noch einmal auf Kosten der Bevölkerung bereichern.

Andererseits braucht es gut ausgebildete Menschen, um das ganze Projekt umzusetzen: Ingenieure, Chemikerinnen, Techniker. In Lüderitz aber haben viele, die in den Townships leben, nicht einmal einen Schulabschluss. In neuen Ausbildungszentren wollen die namibische Regierung und Hyphen sie qualifizieren. Doch bislang gibt es diese Zentren nicht. Wo die 15.000 Menschen für den Bau der Windräder, Solaranlagen, Straßen, Pipelines und Ammoniakfabriken herkommen sollen, wird von Hyphen und der Regierung noch diskutiert.


Etappe 4: Von Namibia nach Deutschland – Entfernung: rund 6.000 Seemeilen, das sind rund 11.000 Kilometer

Von der Angra-Spitze, der Halbinsel, auf der grüner Wasserstoff in Ammoniak umgewandelt wird, sollen später Pipelines ins Meer führen. Sie verlaufen dann rund zwei Kilometer unterirdisch auf dem Meeresgrund, tauchen wieder auf und ragen ein Stück aus dem Wasser. Hier können Tankschiffe andocken.

Die Yara Nauma ist ein solches Tankschiff, im Mai dieses Jahres liegt sie in Rostock. An Bord wirken die Leitungen und Pumpen wie die Adern eines gigantischen Organismus. Rohre ziehen sich in einem dichten Geflecht durch die Rumpfmitte. Längs der Hauptachse sind vier Ammoniaktanks kugelförmig angeordnet. Die Yara Nauma fährt unter norwegischer Flagge im Management der Hamburger Traditionsreederei F. Laeisz. Noch war das Schiff nicht in Lüderitz, aber in einigen Jahren könnte es zu den ersten gehören, die Ammoniak nach Deutschland fahren. Die Route würde dann rund 6.000 Seemeilen entlang des Benguelastroms Richtung Westafrika führen, vorbei an Nigeria und der Elfenbeinküste, an Spanien und Frankreich, durch den Ärmelkanal, bis da Schiff schließlich nach rund drei Wochen die deutsche Nordseeküste erreicht.

Eigentlich seien die Pläne gut für Reedereien, sagt Henrik Schmidt. Der 53-jährige technische Inspektor der Reederei steht auf der Brücke der Yara Nauma und blickt über das 160 Meter lange Schiff. Es ist mit rund 20.000 Tonnen Ammoniak beladen. „Der Transport per Schiff ist seit Jahrzehnten auf der ganzen Welt etabliert“, erklärt Schmidt. Doch noch ist das Ammoniak grau, wird also mit Energie aus fossilen Brennstoffen gewonnen. Derzeit werden etwa 15 bis 20 Millionen Tonnen pro Jahr über den Seeweg transportiert. Prognosen zufolge könnte die Menge auf 200 Millionen Tonnen anwachsen. „Durch grünes Ammoniak werden völlig neue Handelsströme entstehen“, so Schmidt. Für Reedereien bedeutet das: volle Auftragsbücher.

Doch der Boom könnte schnell kommen, vielleicht zu schnell. Denn weniger als 200 Schiffe weltweit können Ammoniak transportieren. Und nur 40 von ihnen befördern diesen ausschließlich. „Der Ammoniaktransport in der Schifffahrt ist ausgelastet und auf den plötzlichen Anstieg nicht vorbereitet“, sagt Schmidt. Deshalb wurde der Bau neuer, besonders großer Tankschiffe beauftragt. Die größte Werft der Welt, Hyundai Samho Heavy Industries in Südkorea, hat den Auftrag bekommen, bis zu zehn neue Ammoniaktanker zu bauen. Der erste soll 2026 fertig werden. Auch in anderen Werften sind die Kapazitäten ausgelastet. Ob es rechtzeitig genug Schiffe gibt, um die geplanten Mengen Ammoniak zu transportieren, ist unklar.


Etappe 5: Die Infrastruktur in Deutschland – Entfernung zum Tanklager in Rostock: rund zwei Kilometer

Von der Brücke des Tankers aus blickt Schmidt nach Südosten. An einem Morgen im Mai liegt die Yara Nauma in der Nähe des Rostocker Hafens an einem Steg für den Ammoniaktransport. Am Horizont, rund zwei Kilometer entfernt, erheben sich runde Bauten. Fünf silberne, parallel angeordnete Rohre verlaufen vom Schiff aus dorthin. Es ist das größte Ammoniaklager Deutschlands, jährlich werden hier rund 600.000 Tonnen umgeschlagen.
In Tanklagern und Häfen wie diesen beginnt die Verteilung innerhalb Deutschlands. Dazu müssen Häfen ihre Infrastruktur umbauen. Nicht nur Tanklager wie in Rostock wird es brauchen, die zusammen ein Vielfaches der dortigen 600.000 Tonnen aufnehmen können, sondern auch sogenannte Cracker-Anlagen, die einen Teil des Ammoniaks in Wasserstoff zurückverwandeln. Nur so kann die grüne Energie etwa in der Stahlindustrie verwendet werden, wo grüner Wasserstoff fossile Brennstoffe ersetzen soll.

Bund und Länder fördern den Aufbau einer solchen Infrastruktur in Häfen und an Industriestandorten mit Milliarden Euro. In Brunsbüttel etwa baut RWE ein Terminal für Ammoniak. Der Konzern rechnet mit Investitionen im mittleren dreistelligen Millionenbereich. Schon 2026 sollen dort jährlich 300.000 Tonnen Ammoniak ankommen.
Von Brunsbüttel hätte es der Stoff auch nicht mehr weit bis zum Düngemittelwerk von Yara. Der norwegische Konzern produziert in der Nachbargemeinde Büttel unter anderem Harnstoffgranulat. Die Anlage wirkt wie ein Labyrinth aus Rohren, Gasleitungen und Lüftungsschächten. Mohammed Hekmi, der 43-jährige Produktionsleiter, trägt während der Führung eine gelbe Warnweste, Helm und Schutzbrille. Es riecht nach frisch ausgefahrener Gülle. Das Granulat kommt am Ende des Produktionsprozesses aus einem Rohr geschossen. Es sind Abertausende weiße Kügelchen, sogenannte Prills. „Sie werden in der Kosmetik als Bindemittel und in Futtermitteln als Nährstofflieferant eingesetzt oder später Düngemitteln zugesetzt und auf Feldern ausgefahren“, erläutert Hekmi, „denn in Harnstoff ist Stickstoff gebunden, den Pflanzen etwa zum Wachsen brauchen.“ Täglich fahren Lastwagen auf das Gelände und werden mit Tonnen von Prills beladen. Von hier werden sie in ganz Europa verteilt.

Noch wird in den Harnstoff-Prills graues Ammoniak verarbeitet, das Yara in Büttel mit Erdgas selbst produziert. Das grüne Ammoniak aus Namibia soll helfen, Emissionen einzusparen. Der Konzern will später auch selbst grünes Ammoniak herstellen, um künftige Importe zu ergänzen – denn wann das grüne Ammoniak in ausreichenden Mengen kommt, kann niemand sagen.

Noch steht in der namibischen Wüste weder ein Windrad noch ein Elektrolyseur, in Lüderitz gibt es keine Ausbildungszentren, und genug Schiffe, um das Ammoniak im großen Stil nach Deutschland zu bringen, werden so schnell auch nicht zur Verfügung stehen. Der Zeitplan wird nicht zu halten sein, es ist eine fragile Lieferkette, auf der Deutschlands Hoffnungen fußen. Und sie ist teuer. Aktuell geht das Wirtschaftsministerium davon aus, dass der Preis für grünes Ammoniak anfangs bei 811 Euro pro Tonne liegen wird. Eine Tonne konventionell hergestelltes Ammoniak kostet hingegen im Mittel nur rund 250 Euro. Die Differenz wird erst einmal der Steuerzahler übernehmen.

Bildunterschriften

Heinz Manns

Das Schiff Yara Nauma in Rostock

Messturm der Firma Hyphen in Namibia

Tobias Bischof-Niemz von Enertrag

Die Wüste lebt: Der Biologe Jean-Paul Roux untersucht ihre Pflanzen- und Tierwelt

Ottilie Shiku hofft, nach dem Schulabschluss bei dem Wasserstoffprojekt einen Job zu finden

Noch hat Lüderitz nur 16.000 Einwohner. Für das Wasserstoffprojekt könnten sehr viel mehr Menschen dort hinziehen

Asser Ndako Mukapuli sorgt sich, dass der Wasserstoff-Boom seine Heimatstadt zum Negativen verändern könnte

Henrik Schmidt, technischer Inspektor der Reederei F. Laeisz

Die Yara Nauma transportiert bereits Ammoniak


Info-Kästen

Die Wasserstoff-Importstrategie der Bundesregierung

Bis zu 70 Prozent des deutschen Bedarfs wird künftig importiert werden müssen. Das verkündete die Bundesregierung im Juli 2024. Sie setzt dabei auf die Kooperation mit Ländern außerhalb Europas und kündigte auch die Entwicklung eines Indikatorenkatalogs zur Überprüfung der Nachhaltigkeitskriterien an.

Kritiker bemängeln die Importstrategie als nicht ausreichend und zu vage. Kritisiert wird, dass auch kohlenstoffarmer Wasserstoff, sogenannter blauer Wasserstoff, der weiterhin auf fossilen Brennstoffen basiert, eingeführt werden soll. Die Bundesregierung verteidigt den Entschluss mit dem hohen Zeitdruck und dem hohen Bedarf. Bereits 2030 sollen zwischen 45 und 90 Terawattstunden Wasserstoff und Derivate importiert werden. Bis 2045 könne der Bedarf auf 700 Terawattstunden steigen.

Grüner Wasserstoff spielt eine entscheidende Rolle dabei, die Industrie zu dekarbonisieren und deutschlandweit bis 2045 klimaneutral zu werden.

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Das Wichtigste in Kürze

– Für eine klimaneutrale Wirtschaft, die den Wohlstand nicht einschränkt, braucht Deutschland grünen Wasserstoff. Der Großteil soll importiert werden.

– Namibia plant ein großes Wasserstoffzentrum. In der Wüste stehen ausreichend Wind und Sonne zur Verfügung, um per Elektrolyse grünen Wasserstoff zu erzeugen. Dieser soll, umgewandelt in Ammoniak, mit Schiffen nach Deutschland kommen.

– Die Produktion in Namibia könnte den Menschen und der Umwelt schaden. Wie Firmen und Politik dies verhindern können, wird derzeit untersucht.

– Noch ist die Lieferkette im Aufbau, die Logistik ist komplex und teuer.