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Die Compliance-Falle

von Mareike Müller, Hannah Steinharter und Teresa Stiens
Handelsblatt vom 14.10.2022

Der Artikel kritisiert den Umgang mit Betroffenen sexualisierter Gewalt in deutschen Unternehmen. Compliance-Stellen vertuschten die Fälle und seien nur Fassade. Interview mit Strafrechtsanwältin bei Freshfields.

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Die Compliance-Falle

"Erst versuchte er, mich auf den Mund zu küssen, indem er meinen Kopf zu sich ziehen wollte und mir mit seinem Kopf näherkam, doch ich konnte das zum Glück noch abwehren. Dann hat er mich mit seinen Händen am Intimbereich angefasst, danach an meinen Brüsten, unter meinem Shirt, unter meinem BH. Ich war wie erstarrt und schockiert. Ich habe ihm gesagt, dass er das lassen soll und Nein gesagt, doch er meinte nur: ‚Nein, lass mich. Du hast schöne Brüste.‘ Ich versuchte, seine Hände wegzubekommen, und habe es geschafft, von ihm wegzukommen […]“

Diesen und zwei weitere Vorfälle mit ihrem Kollegen meldete Leila Martins* dem Compliancesystem der Mercedes-Benz-Gruppe. Doch der Fall versandete – ohne Konsequenzen für den Beschuldigten. Eigentlich sollten solche Compliancesysteme Fälle aufarbeiten und Täter abschrecken. Doch die Realität zeigt, dass die Verfahren oft Beschuldigte schützen und die Betroffenen alleinlassen.

Mercedes teilt auf Anfrage zu dem Fall mit, dass keine sexuelle Belästigung am Arbeitsplatz geduldet werde und bestätigte Fälle konsequent geahndet würden.

#MeToo-Bewegung: Aufmerksamkeit für sexuelle Belästigung

Martins heißt eigentlich anders, wie alle Betroffenen in diesem Text. Ihr Schriftwechsel mit Mercedes liegt [dem Medium] vor. Sie ist mit ihren Erlebnissen nicht allein: Zwar machten Millionen Frauen seit den Enthüllungen um Filmproduzent Harvey Weinstein vor fünf Jahren unter dem Hashtag #MeToo ihre Erfahrungen mit sexueller Belästigung und Machtmissbrauch öffentlich. Aber [Medium]-Recherchen zeigen, dass trotz des Bewusstseins für das Problem interne Complianceverfahren in Unternehmen oft dabei versagen, Vorwürfe zufriedenstellend aufzuklären.

So hat es auch Corinna Frey* erlebt. Zwischen 2017 und 2019 seien sie und andere Mitarbeiterinnen ihres Unternehmens immer wieder sexueller Belästigung, körperlichen Übergriffen und Einschüchterungsversuchen ausgesetzt gewesen. Die Fälle sind auf fünf Seiten dokumentiert – insgesamt soll mindestens eine niedrige zweistellige Zahl Mitarbeiterinnen betroffen gewesen sein. Das Dokument liegt [dem Medium] vor.

Detailliert ist dort beschrieben, wie zwei hochrangige männliche Führungskräfte immer wieder sexualisierte Kommentare über anwesende Frauen machten. Auch körperliche Übergriffe werden dort aufgeführt. Insgesamt zeichnet das Dokument
ein Bild zweier Führungspersonen, die ihre Macht gegenüber weiblichen Untergebenen zur eigenen Belustigung und Befriedigung ausnutzten.

Als sich die Frauen trauten, die Liste der Fehlverhalten an die Unternehmensleitung weiterzuleiten, gab es eine interne Untersuchung, doch das Ergebnis haben die Betroffenen bis heute nicht erfahren. Name und Branche des Unternehmens möchte Frey nicht veröffentlicht sehen.

Das betroffene Unternehmen bestätigt auf Anfrage, dass 2019 Fehlverhalten in dem entsprechenden Büro bekannt geworden sei. Daraufhin seien „umgehend Untersuchungen eingeleitet und angemessene Maßnahmen ergriffen worden“. Welche genau, dazu äußert sich das Unternehmen nicht. Man nehme „jeden Verdacht auf Fehlverhalten ernst, untersuche ihn gründlich und ergreife, wenn notwendig, geeignete Maßnahmen“.

Compliance bedeutet auf Deutsch so viel wie Regeltreue oder Einhaltung geltender Standards. Werden diese verletzt, wie im Falle einer sexuellen Belästigung, aber auch zum Beispiel bei Korruption, können die Fälle in Complianceverfahren aufgearbeitet werden.

Dabei sammelt ein extern oder intern Beauftragter Hinweise und befragt die Betroffenen, die beschuldigte Person und mögliche Zeugen. Diese Rolle wird vor allem in großen Unternehmen gern ausgegliedert, häufig an Anwaltskanzleien.

Eines der bekanntesten Complianceverfahren, bei denen es um sexualisierten Machtmissbrauch geht, läuft aktuell beim Springer-Verlag gegen den ehemaligen „Bild“-Chefredakteur Julian Reichelt. Mit der Durchführung ist die Großkanzlei Freshfields beauftragt. Das Verfahren ist noch nicht abgeschlossen, hat dem Thema des sexualisierten Machtmissbrauchs allerdings eine große öffentliche Aufmerksamkeit beschert.

Im Oktober 2017 war das schon einmal der Fall. So lange ist es her, dass die Aktivistin Tarana Burke und die Schauspielerin Alissa Milano unter dem Hashtag #MeToo auf Twitter eine breite Debatte über sexualisierte Gewalt anstießen. Filmproduzent Weinstein, der in New York bereits wegen mehrfacher Vergewaltigung verurteilt wurde und dessen Straftaten die #MeToo-Bewegung ins Rollen brachten, steht in dieser Woche in den USA erneut vor Gericht. Seitdem, das zeigen Gespräche mit Expertinnen, ist das Thema auch in der Arbeitswelt präsenter. Doch das führt nicht unbedingt dazu, dass sexuelle Belästigungen in Unternehmen auch hinreichend aufgearbeitet werden.

Im August berichtete das Nachrichtenportal Bloomberg, dass zwei Mitarbeiterinnen von SAP in den USA von männlichen Kollegen vergewaltigt worden seien. Beide Frauen hatten sich demnach beim Unternehmen beschwert. Als die Beschuldigten der Personalabteilung gegenüber behaupteten, der Sex sei einvernehmlich und die Frauen betrunken gewesen, wurden die Untersuchungen laut Bloomberg wieder eingestellt. SAP betonte, man nehme „sämtliche Anschuldigungen hinsichtlich Fehl- und kriminellen Verhaltens außerordentlich ernst“.

Ein weiterer Vorfall machte in Deutschland bereits 2014 Schlagzeilen. Ein ehemaliger Partner der Großkanzlei Linklaters hatte in München bei einer Veranstaltung nach dem Oktoberfest eine studentische Mitarbeiterin vergewaltigt, 2019 wurde das Urteil gegen ihn rechtskräftig. Die damalige interne Compliance-Untersuchung war unter anderem von der Anwältin der Geschädigten scharf kritisiert und als unprofessionell bezeichnet worden.

Dass interne Verfahren auch anders laufen können, zeigte die Deutsche Bank. Deutschlands größtes Geldhaus hatte gegen zwei hochrangige Manager wegen Vorwürfen der sexuellen Belästigung ermittelt. Einer der Beschuldigten hat die Bank mittlerweile verlassen. Der zweite Manager hat bereits erste deutliche Sanktionen zu spüren bekommen, ihm drohen zudem weitere Konsequenzen. Die Bank äußerte sich nicht dazu.

Fälle, bei denen es um Complianceverstöße wegen sexualisierten Fehlverhaltens geht, können dem Image von Arbeitgebern massiv schaden. Wenn Complianceverfahren zu Frust und im schlimmsten Fall weiteren Traumata bei den Betroffenen führen, kann dies aber auch dafür sorgen, dass Talente das Unternehmen oder gar die Branche verlassen, wenn sie sich nicht ausreichend unterstützt fühlen. Genau das beschreibt Martins, die angibt, bei Mercedes-Benz belästigt worden zu sein:

„Als ich nach dem Abitur bei Daimler in der Werkshalle anfing, war ich richtig stolz, in einem führenden Unternehmen der Automobilindustrie zu arbeiten. Mir war klar, dass die Branche männlich dominiert ist, aber ich hätte nicht damit gerechnet, dass in so einem renommierten Unternehmen solche patriarchalen Strukturen vorherrschen. Trotzdem wollte ich unbedingt Karriere bei Daimler machen, ich war die dritte Frau in meinem Ausbildungsbereich. Aber das Unternehmen hat mich einfach nicht vor diesen Straftaten geschützt.“

Mercedes schreibt dazu, man bedauere es, wenn die ehemalige Mitarbeiterin von den bisherigen Aufklärungsbemühungen enttäuscht worden sei. Und weiter: Bis zum Beweis des Gegenteils gelte die Unschuldsvermutung für beschuldigte Personen.

Jetzt, sechs Jahr nach den mutmaßlichen Vorfällen, bietet Mercedes an, dass das Unternehmen jederzeit zu einer neuen Untersuchung bereit wäre. Darauf angesprochen, winkt Martins jedoch ab. „Was soll das bringen?“, fragt sie. „Die Vorgehensweise ist genau dieselbe wie damals, und gehandelt wurde von dem Unternehmen bis heute nicht.“

Arbeitsplatz gilt als besonders gefährlich

Für Berufseinsteigerinnen wie Leila Martins, Corinna Frey und viele andere, kann der Arbeitsplatz ein potenziell gefährliches Terrain sein. Das ist kein Zufall. Anette Diehl berät als Trauma- und Fachberaterin des Frauennotrufs in Mainz von sexualisierter Gewalt betroffene Frauen. Sie ist sich sicher: „Sexualisierte Übergriffe gibt es überall dort, wo Menschen zusammen sind – sie sind dazu da, das Gegenüber klein zu halten, zu demütigen und zu entwürdigen.“ Es gehe dabei nur selten ums Flirten oder gemeinsame sexuelle Erlebnisse, sondern um Macht.

Deshalb sei auch der Arbeitsplatz besonders anfällig für solche Vorgänge, schließlich herrsche dort eine klare Hierarchie und viel Konkurrenz, erklärt Diehl. „Außerdem können die Opfer einem Übergriff am Arbeitsplatz nicht so leicht entkommen“, sagt die Expertin. Denn die Option, dort nicht mehr hinzugehen, besteht nicht. Gerade junge Frauen sind oft abhängig von ihren Vorgesetzten, bei Einstufungen, Beurteilungen oder den nächsten Karriereschritten. Daraus kann ein gefährliches Machtgefälle entstehen – das einige Täter für sich nutzen.

Doch ab welchem Punkt beginnt sexuelle Belästigung? Eine Frage, die rechtlich klar geregelt ist: „Bemerkungen sexuellen Inhalts oder Aufforderungen zu sexuellen Handlungen“, definiert das Allgemeinen Gleichstellungsgesetz (AGG) schon als sexuelle Belästigung.

Vorsatz oder Absicht sind für den Tatbestand einer unerwünschten sexuelle Belästigung nicht erforderlich. „Es geht nicht um die Intention des Täters“, erklärt Beraterin Diehl. Sondern darum, was die betroffene Person als Belästigung empfinde. Die Ausrede „war doch nur ein Witz“ zählt somit auch juristisch nicht. Das Gegenteil zu beweisen obliegt der beschuldigten Person.

Außerdem ist es nicht notwendig, dass die Betroffene klarmacht, dass sie das Verhalten ablehnt. Stattdessen hat das Bundesarbeitsgericht festgestellt, dass die „Unerwünschtheit“ nur objektiv erkennbar sein muss. Heißt also: Es reicht, wenn sich Betroffene an eine Person ihres Vertrauens wenden, um klar zum Ausdruck zu bringen, dass sie belästigt wurden, damit der Stein juristisch ins Rollen kommt.

Arbeitgeber in Deutschland sind deshalb verpflichtet, Meldestellen oder Anlaufstellen für Betroffene einzurichten. Doch die alleinige Tatsache, dass es diese Stellen gibt, heißt nicht, dass sie auch genutzt werden.

Eine [Medium]-Umfrage unter allen 40 Dax-Konzernen zeigt, dass fast alle der Firmen zumindest eine Compliancestelle, interne Verhaltensregeln sowie mehrsprachige Meldesysteme eingerichtet haben. Immerhin eine Verbesserung zu 2018: Damals hatten nur acht der 30 Dax-Unternehmen laut [anderes Medium]-Recherchen eine Betriebsvereinbarung zum Umgang mit sexueller Belästigung.

Doch gleichzeitig rühmen sich viele Unternehmen damit, dass ihre Meldestellen kaum frequentiert werden. Vonovia etwa erklärt auf Anfrage, dass es „in den vergangenen fünf Jahren eine geringe einstellige Anzahl an gemeldeten Fällen gab." Beiersdorf ist ein Fall von sexueller Belästigung innerhalb des vergangenen Jahres 2021 bekannt, zwei Fälle innerhalb der letzten fünf Jahre. International habe es einen Verdachtsfall gegeben. Covestro, Daimler, Hellofresh, die Deutsche Bank und BASF wollen auf Anfrage keine Angaben machen. Symrise, MTU, Brenntag und die Deutsche Börse melden überhaupt keine Fälle in den vergangenen fünf Jahren.

Auch wenn sich die Unternehmen mit niedrigen Zahlen rühmen – wenn über einen langen Zeitraum gar keine Fälle gemeldet werden, ist das eher ein Warnsignal. Julia Viohl, Fachanwältin für Arbeitsrecht, die regelmäßig selbst Complianceverfahren durchführt, sagt: „Wenn über einen langen Zeitraum gar keine Meldungen eingehen, sollte das Unternehmen sein System mal überprüfen.“

Sie rät dazu, die folgenden Fragen zu stellen: Bei wem kommen Meldungen an? Wie vertraulich werden sie behandelt? Wie attraktiv ist die Meldestelle wirklich für Betroffene?

Dafür, dass es den Meldesystemen an Vertrauen fehlt, spricht auch, dass die niedrigen Angaben der Dax-Unternehmen im Widerspruch zu anonym erhobenen Zahlen in der Gesamtbevölkerung stehen. Laut Daten des Thinktanks Foundation for European Progressive Studies (FEPS), der hauptsächlich vom Europäischen Parlament finanziert wird, haben, Stand 2019, 68 Prozent der Frauen in Deutschland im Laufe ihres Lebens bereits Sexismus oder sexualisierte Belästigung am Arbeitsplatz erlebt. Damit liegt Deutschland nicht nur vor Großbritannien, Italien, Spanien und Frankreich, sondern auch über dem EU-Durchschnitt von 60 Prozent.

Doch wieso sind die Meldeverfahren deutscher Unternehmen scheinbar so ineffektiv? Privatermittler Frank Heyde kennt die Antwort auf diese Frage. Zu ihm und dem Team seiner Detektei ManagerSOS kommen Betroffene, die dem internen Meldesystem des Arbeitgebers nicht vertrauen. Heyde versucht dann, möglichst diskret zwischen den Parteien zu vermitteln und den vermeintlichen Tätern mögliche rechtliche Konsequenzen aufzuzeigen.

Diejenigen, die seine Hilfe suchen, wollten fast nie Behörden oder Unternehmensstellen einschalten, sagt Heyde, denn „die Leute in der Compliance wissen, wie man vertuscht“. Wer wirklich ein Problem habe, wende sich nicht an die internen Untersuchungsinstanzen. Heyde: „Compliance-Abteilungen dienen nur dazu, die Fassade zu wahren. Um zu zeigen, dass man etwas getan hat.“

Die Arbeitsrechtlerin Julia Viohl berichtet, dass es für die betroffenen Frauen sehr schwierig sei, über das Erlebte zu sprechen. „Das muss eine Person übernehmen, die für solche Fälle geschult ist“, fordert sie. Doch vorgeschrieben ist das nicht. Jede Kanzlei, die mit der Untersuchung beauftragt wird, bestimmt selbst, wer sie übernimmt.

Viohl betont auch, wie sensibel ein Complianceverfahren sei: „Ein Verfahren wegen sexuellen Machtmissbrauchs ist nicht vergleichbar mit herkömmlichen Verfahren bei Pflichtverletzungen, zum Beispiel wegen Arbeitszeitbetrugs.“ Schließlich sei die Sexualität das Intimste, was ein Mensch habe.

Ein anderes Problem für die Betroffenen liegt in der fehlenden Kontrolle über das Verfahren und die Ergebnisse. Wenn sich Verdachtsmomente erhärten, kann der Arbeitgeber die Beschuldigten sanktionieren. Die Entscheidung darüber, welche Konsequenzen aus den Ergebnissen gezogen werden, liegt allerdings allein beim Arbeitgeber. Selbst bei strafrechtlich relevanten Fällen besteht für die Anwälte oder ihre Mandanten keine Pflicht, ihre Erkenntnisse an die Staatsanwaltschaft weiterzuleiten.

Schlechte Verfahren versperren Weg für weitere Aufarbeitung

Das bestätigt auch Susanne Kämpfer, die für die Großkanzlei Freshfields viele Complianceverfahren, auch im Fall von Ex-„Bild“-Chefredakteur Reichelt, durchführt: „Unternehmen sind dazu nicht verpflichtet“, erklärt Kämpfer. Wenn in #MeToo-Fällen Straftaten vorlägen, würden die Arbeitgeber allerdings häufig von sich aus entscheiden, die Staatsanwaltschaft einzuschalten, sagt sie.

Allerdings ist sexuelle Belästigung strafrechtlich nur dann als Delikt klassifiziert, wenn es sich um körperliche Übergriffe handelt. Und für eine arbeitsrechtliche Aufarbeitung gilt eine knappe Meldefrist von wenigen Wochen. „Das schafft kein Mensch, damit psychisch fertig zu werden und dann auch noch alle Fristen einzuhalten“, bemängelt die Betroffene Corinna Frey die Regelung.

Das große Problem: Ein fehlgeleitetes Complianceverfahren kann auch die weitere Aufarbeitung einschränken. Auch wenn der Weg zur Polizei Betroffenen unabhängig vom Ausgang offensteht, gibt Beraterin Diehl vom Frauennotruf zu bedenken: „Dass eine Frau, die ihren Fall im Unternehmen erfolglos angeprangert hat, danach noch selbst zur Polizei geht, halte ich für unrealistisch.“

Wenn die Aufarbeitung am Arbeitsplatz schon nicht funktioniert habe, sei es ein großes Hemmnis, das Erlebte noch in die Gesellschaft hineinzutragen. „Viele Frauen – und auch betroffene Männer und Transpersonen sind extrem verunsichert und beschämt“, berichtet Diehl. Außerdem handle es sich bei den Opfern oft um Berufseinsteigerinnen, bei denen Angst um den weiteren Werdegang mitschwinge, wenn sie von Belästigungen erzählen.

Leila Martins berichtet, dass ihr bei Mercedes der Mitarbeiter in der konzerneigenen Compliancestelle nach einigen Nachfragen sogar geraten habe, mit dem Fall besser nicht zur Polizei zu gehen.

Mercedes gibt an, dass die Kolleginnen und Kollegen des Hinweisgebersystems Business Practices Office (BPO) besonders geschult würden und deshalb in einem Gespräch mit einem Hinweisgeber nicht davon abraten würden, eine Meldung bei einer Strafverfolgungsbehörde vorzunehmen.

Martins bricht nach den Vorfällen ihre Ausbildung ab, weil sie unter diesen Bedingungen nicht mehr arbeiten will. Später begibt sie sich in psychologische Behandlung, weil sie mit den Folgen der Übergriffe kämpft.

„Mittlerweile glaube ich, dass das eine völlig angemessene Reaktion meines Körpers auf die extremen Erlebnisse war“, sagt sie heute. Doch wie stark die Übergriffe am Arbeitsplatz ihrer psychischen Gesundheit geschadet hatten, bemerkte sie erst im Laufe einer Therapie.

„Mir wäre nie in den Sinn gekommen, dass so etwas in einem renommierten Unternehmen vorkommt und dass mich diese Übergriffe und das Wegschauen des Unternehmens dermaßen zurückwerfen würden“, erzählt sie. „Meine männlichen Kollegen von damals haben sich mittlerweile Autos gekauft, Häuser gebaut. Ich bin zwischendurch immer wieder ausgefallen.“

Damit ein Verfahren erfolgreich das Geschehene aufklären kann, ohne dass die Betroffenen dadurch in eine psychologische Krise gestürzt werden, sollten einige Punkte beachtet werden, raten Expertinnen. So ist es wichtig für das gegenseitige Vertrauen, dass ein Verfahren niemals ohne Einverständnis der Betroffenen und nicht allein auf Initiative des Arbeitgebers einberufen wird.

Kein Ergebnis, dafür viel Frustration

„Es geht nicht gegeneinander. Es geht nur miteinander“, sagt Daniela von Wantoch-Rekowski, Gleichstellungsexpertin bei der Verdi-Bundesverwaltung. Ein einseitiges Verfahren würde von vorneherein Probleme mit sich bringen. Von Wantoch-Rekowski: „So wird das gesamte Verfahren unglaubwürdig.“ Grundsätzlich sollte ein Complianceverfahren daher „immer auf einer gemeinsamen Übereinkunft von Arbeitgeber und Betriebsrat basieren“.

Sie plädiert darüber hinaus für ein Stufenverfahren, das verschiedene „Eskalationslevels“ vorsieht und Klarheit schafft. „Es muss deutlich werden, welches Verhalten welche Konsequenz nach sich zieht. Und dabei dürfen Arbeitgeber auch vor als hart wahrgenommenen Antworten, bis zur Entfernung aus dem Betrieb, nicht zurückschrecken.“ Dort, wo es Betriebsvereinbarungen zum Umgang mit sexualisierter Gewalt am Arbeitsplatz gebe, die auch Sanktionsmaßnahmen vorsehen, seien die Zahlen rückläufig.

Gleiches sehe man dort, wo ein betrieblicher Verhaltenskodex von der Unternehmensleitung und dem Betriebsrat oder zwischen den Betriebsparteien vereinbarte Leitlinien zum Umgang mit sexualisierter Gewalt eingeführt worden seien. Nach dem Gleichstellungsgesetz hätten alle Arbeitgeber die Verpflichtung, alle Maßnahmen zu ergreifen, die zur Vermeidung und Aufklärung von Vorfällen sexualisierter Gewalt am Arbeitsplatz führten.

Dazu gehöre auch die Einrichtung einer unabhängigen Anlaufstelle, an die Betroffene sich wenden könnten. Leider gebe es trotz der gesetzlichen Verpflichtungen immer noch nicht für alle Betroffenen eine solche Anlaufstelle an ihrem Arbeitsplatz, so die Expertin.

Weder Leila Martins noch Corinna Frey wurden über den Ausgang der von ihnen angestoßenen Complianceverfahren informiert. Die Frustration darüber ist groß, wie aus einer Mail einer der betroffenen Kolleginnen von Frey hervorgeht. Nachdem sie Monate nach der „Investigation“ noch immer keine Informationen bekommen hatte, beschwerte sich die betroffene Kollegin in einer Mail bei der Ermittlungsleiterin. Sie schreibt:

„Es kann nicht sein, dass in unserer heutigen Zeit ein solch systematischer Machtmissbrauch noch möglich ist und alle Männer in Verantwortungspositionen wegschauen.“

Einige Monate später kommt es zum Gespräch zwischen mehreren Betroffenen mit dem deutschen Büroleiter. Frey schildert, dass die Betroffenen das Gespräch „aus Mangel an Einsicht und Verständnis vonseiten des Unternehmens“ abgebrochen hätten. Das Unternehmen will sich auf Anfrage zur Schilderung der Betroffenen nicht äußern.

Frey hat als Konsequenz aus dem Verfahren die Branche gewechselt. An ihrem neuen Arbeitsplatz fühlt sie sich sicherer. Die Vorgesetzten, die sie und ihre Kolleginnen beim Management gemeldet hatten, haben das Unternehmen mittlerweile verlassen. An ihrem neuen Arbeitsplatz sind sie allerdings in eine höhere Position aufgestiegen – mit noch mehr Macht und noch mehr Verantwortung. Über das Complianceverfahren sagt Frey heute: „Nie wieder würde ich so etwas mitmachen.“

*Die Namen wurden von der Redaktion geändert.