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Sie brauchten nur ein Auto

von Nils Heck (geb. Wischmeyer)
Süddeutsche Zeitung vom 02.05.2022

Anlässlich einer geplanten EU-Richtlinie, die das „ewige Widerrufsrecht“ für Kreditverträge streichen will, wird dessen Bedeutung für Kettenkreditnehmer aufgezeigt. Für diese ist ein Widerruf oft die einzige Möglichkeit, der durch ungenügende Aufklärung seitens der Kreditgeber erzeugten Schuldenfalle zu entkommen.

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Sie brauchten nur ein Auto

Die Angst ging einfach nicht weg. Daran erinnert sich Marina A. heute noch, ihrem Mann ging es noch schlechter. Jürgen schlief nicht mehr. Er stand mit den Fragen auf, mit denen er ins Bett ging: Nehmen Sie uns die Wohnung weg? Landen wir in der Schufa? Müssen wir in die Insolvenz? Die Bank schickte Mahnschreiben, ein Telegramm: Alles war jetzt dringend. Das Telefon läutete ständig. Auf der Arbeit, am Samstag, spätabends. Irgendwann gingen Jürgen und Marina nicht mehr ans Telefon, gar nicht mehr. Es könnte ja die Bank sein, und das ging nicht. Sie hatten die Rate nicht beisammen.

Viel hatten sie versucht in den Monaten zuvor, um das mit dem Kredit zu klären. Jahrelang hatten sie ihn abgestottert, doch der Schuldenberg wuchs. Bis es nicht mehr ging. Familie A. zahlte am Ende über 700 Euro im Monat für einen Kredit von mehr als 40 000 Euro, dabei brauchten sie anfangs nur einen Kredit für einen Gebrauchtwagen, damit es Jürgen A. zu seinem Job schaffte. Er war Takler, zuständig für die Wartung von Segelschiffen. Eine Höllenarbeit für den Körper. Heute kann er kaum noch laufen, hat sich für die Familie und die Gesellschaft kaputt geschuftet. Später nahm Marina A. das Auto, um als Altenpflegerin zu ihren Patienten in den Vororten und auf dem Land zu kommen. Eigentlich war es eine gute Investition, das Auto, nur der Kredit, der war es nicht.

Schon lange war die Rate hoch, laut Bank aber im Rahmen ihrer internen Richtlinien. Dann kam wie geplant die Rente von Jürgen A., und er schrieb einen Brief an die Bank: Sie müssten bitte die Rate senken, die Rente, das niedrigere Einkommen. Natürlich würden sie weiterzahlen, gern auch länger. O.k.? Die Bank antwortete nicht, heute sagt sie: Eine Verlängerung sei nicht möglich gewesen, weil die Maximallaufzeit schon erreicht war. Stattdessen begann in der Erinnerung der Familie A. eine Kaskade von Mahnschreiben, Telefonanrufen und diese Angst, die das Ehepaar jeden Tag begleitet: Verlieren wir alles?

Jürgen und Marina A. sind in einen Kettenkredit gerutscht, so wie Schätzungen von Experten zufolge Hunderttausende Menschen in Deutschland. Bei einem Kettenkredit wird der ursprüngliche Kreditvertrag, der auf sieben oder acht Jahre ausgelegt ist, bereits nach einem oder zwei Jahren aufgelöst und ein neuer Vertrag aufgesetzt. Der Kreditbetrag ist dann meist höher, dazu verkaufen die Geldhäuser den Menschen Produkte wie Restschuldversicherungen, die die Zinsen und Raten oft deutlich nach oben treiben. Geldhäuser wie die ehemalige Hausbank der Familie A. betonen, nur einen Kredit zu haben, der immer abgelöst wird, statt mehrere, die parallel laufen, sei übersichtlicher für Verbraucher und nicht verpflichtend, gleiches gelte für Zusatzprodukte. Verbraucherschützer aber berichten, dass bei Kettenkrediten der Schuldenberg im Vergleich zu mehreren Krediten über Jahre hinweg sehr schnell wachse, so lange bis die Verbraucher unter der Schuldenlast zusammenbrechen. Die Insolvenz ist für sie eigentlich nicht mehr abzuwenden, mit Betonung auf eigentlich.

Die Bundesregierung will Schuldnern den Notausgang versperren

Denn bisher gibt in Deutschland das sogenannte „ewige Widerrufsrecht“. Das besagt vereinfacht: Wenn eine Bank in ihren Kreditverträgen beispielsweise den Zinssatz nicht klar definiert, eine falsche Widerrufsbelehrung abgibt oder die Unterlagen andere signifikante Fehler enthalten, kann der Kunde den Vertrag widerrufen – und das ewig. Viele wissen das nicht. Für Anwälte ist der ewige Widerruf oft der letzte Ausweg, um Menschen wie Jürgen und Marina A. vor einer möglichen Privatinsolvenz zu retten.

Ausgerechnet diesen Notausgang will die Bundesregierung künftig verbarrikadieren, wie Recherchen von [Medium] und [anderes Medium] zeigen. Hintergrund ist eine neue Richtlinie der EU, in der geregelt werden soll, wer wann an einen Kredit kommen kann. Deutschland will darin auch das Widerrufsrecht reformieren und das zulasten der Verbraucher, wie mehrere Papiere zeigen. Statt ewig soll das Widerrufsrecht künftig nur noch ein Jahr und 14 Tage ab Vertragsabschluss gelten, wenn die Bank einen signifikanten Fehler macht.

Während sich das Bundesjustizministerium offiziell nicht äußern will, sagte ein hochrangiger Vertreter Deutschlands in Brüssel zuletzt stolz: „Das allerwichtigste Anliegen der Bundesregierung ist natürlich das Ende des ewigen Widerrufsrechts.“ Ein aktueller Entwurf, den [anderes Medium] und [Medium] einsehen konnten, zeigt, dass Deutschland mit diesem Anliegen durchaus Erfolg haben und es die Änderung in die finale Richtlinie schaffen dürfte.

Für Dorothea Mohn von der Verbraucherzentrale Bundesverband wäre das fatal. „Der ewige Widerruf ist ein wichtiger Rettungsanker bei Kettenkrediten“, sagt sie. „Wenn das Widerrufsrecht begrenzt wird, dann entfällt dieser Notanker und der Verbraucher sitzt damit an dieser Stelle in der Falle.“ Sie sieht in dem neuen Gesetz einen Lobbyerfolg der Banken, die damit ihr Vertriebsmodell zum Nachteil der Verbraucher absichern würden. Immerhin gebe es den ewigen Widerruf nicht ohne Grund, sondern nur für Fälle, in denen Banken einen signifikanten Fehler gemacht oder unzureichend informiert hätten. Ohne solche Fehler ist ein ewiger Widerruf nicht möglich. Die angepeilte Änderung könnte ihrer Meinung nach dazu führen, dass die Banken einen noch geringeren Anreiz haben, ihre Kunden richtig zu informieren, weil klar ist: Nach einem Jahr und 14 Tagen könnten die gegen die Verträge sowieso nichts mehr ausrichten.

Die vergangenen Jahre waren für Marina A. nicht einfach, dabei wollten sie doch nie etwas Böses, sie seien da einfach reingerutscht, sagt sie. Wenn sie erzählt, lehnt sie sich auf dem Sessel neben der Couch ein wenig zur Seite. Beste Omi der Welt steht auf der Tasse vor ihr, die erwachsenen Kinder und kleinen Enkelkinder schauen aus Fotos auf sie und das leicht verblichene Tattoo auf ihrem Arm herab. Fuzzy steht da, wegen ihres Mannes Jürgen. Ein Filmheld, der immer Blödsinn gemacht hat. Das passte, sagt sie. Wenn sie über ihn spricht, lächelt sie ihn quer über den Couchtisch an. Wenn er über sie spricht, spricht er von der „besten Frau der Welt“.

Das Ehepaar A. ist der deutsche Durchschnitt, beide berufstätig, Mietwohnung, ein Auto. Eigentlich waren sie immer eher auf der vorsichtigen Seite, sagt Marina A., die sich um die Finanzen kümmert. Dann kam dieser Kredit. Ursprünglich waren es einmal 20 000 Euro, die sie für den Wagen aufgenommen haben. Es sollte weniger sein, doch der Bankberater habe gesagt, sie sollten einfach etwas mehr nehmen, sich mal was gönnen. Und sie dachten, sie hatten sich das nach vielen Jahren des Schuftens verdient. Warum auch nicht?

Über die Jahre dann rutschten sie immer tiefer in die Schulden. Um die steigende Rate zu bezahlen, verzichteten sie auf große Urlaube, später sparten sie bei der Kleidung und Lebensmitteln. Wenn die Kinder in den Wildpark wollten, legte Omi etwas zur Seite, natürlich. Den Kredit wollten sie unbedingt abbezahlen. Als es mit der Rente knapp wurde, boten sie der Bank eine Teilzahlung an. 250 Euro hätten sie dann noch zum Leben gehabt.

Als das nicht klappte, wandte sich Marina A. an die Verbraucherzentrale, die sie an den Mann vermittelte, den das Ehepaar heute als Retter bezeichnet: Achim Tiffe. Der Hamburger Anwalt betreut solche Fälle seit Jahrzehnten, nicht selten pro bono. Eine breite Treppe führt hinauf in die Anwaltskanzlei, in der er tätig ist, zu den weißen Flügeltüren, hinter denen sich ein Flur auftut, der zum Konferenzraum führt. Hinter Tiffe stapeln sich in einem Regal juristische Nachschlagewerke, vor sich legt er einen großen Ordner mit vielen bunten Post-its. Es sind die Markierungen innerhalb der fetten Akte von Familie A. Tiffe blättert hindurch und zieht einen Kreditvertrag heraus. Er ist klein beschrieben, sodass man sich nah an ihn heran beugen muss, um ihn lesen zu können. „Finden Sie einen Fehler“, sagt er. „Sie haben ein Jahr Zeit, und ich hole ihnen jedes juristische Nachschlagewerk, das sie wollen. Finden Sie einen Fehler.“ Er wartet, dann sagt er: „Sie finden ihn nicht, niemals.“

Und genau das sei das Problem mit der neuen Regelung, die die Bundesregierung auf EU-Ebene durchbringen will. „Künftig können die Banken einfach ein Jahr und 14 Tage warten und dann kann der Verbraucher und wir als Anwälte quasi nichts mehr gegen ihre Fehler tun“, sagt er. Dabei gehe es niemals darum, das gesamte Geld zurückzubekommen oder die Bank in Bedrängnis zu bringen, sondern sich auf etwas zu einigen, was Menschen wie Jürgen und Marina A. stemmen können. „Dieses Gesetz ist also genau das falsche Signal von der Politik“, sagt Tiffe.

Bei Jürgen und Marina A. begann alles im Jahr 2006, glauben sie, die alten Verträge haben sie nicht mehr. Ihr Autohändler empfahl die Finanzierung bei dem Geldhaus, das sie später so oft verfluchen sollten. Schnell bekamen sie den Kredit, und dann lief es ihren Schilderungen zufolge oft gleich: Der Berater holte sie in die Bank, weil er mal reden wollte, weil sie die Filialen wechseln sollten oder einfach so. Einen Anlass fand er laut Familie A. immer, eine Lösung gleich dazu: ein höherer Kredit mit immer höheren Raten. So erzählen es die Eheleute A. heute. Die Bank widerspricht und sagt auf Anfrage, eine Aufstockung des Kredits über die Kunden sei im Rahmen der internen Richtlinien und nach Wunsch des Kunden möglich, ein Filialwechsel ändere aber nichts an den Produkten oder Konditionen.

Neben dem Kreditvertrag spielte eine Restschuldversicherung eine wichtige Rolle. Eigentlich sollen solche Versicherungen die Verbraucher schützen, wenn der Ehepartner ausfällt oder man arbeitslos wird. Oft sind diese aber auch sehr teuer, wie Untersuchungen der Finanzaufsicht Bafin und eine Beispielrechnung von Anwalt Tiffe zeigen: Ein normaler Kredit von 10 000 Euro und mit fünf Jahren Laufzeit habe einen effektiven Jahreszins von etwa 6,16 Prozent, rechnet er. Kommt eine Restschuldversicherung inklusive aller Kosten hinzu, liege man schnell bei 19 Prozent effektivem Jahreszins auf den Kreditbetrag, ein gewaltiger Unterschied für ein bisschen Sicherheit.

Spätestens wenn das Einkommen im Rentenalter sinkt, wird es in vielen Fällen brenzlig

Hinzu kommt, dass Kreditnehmer die Versicherungen oft als obligatorisch wahrnehmen würden. Jürgen und Marina A. beispielsweise schildern die klassische Situation so: Nach anderthalb Stunden beim Bankberater habe der ganz viel ausgedruckt und sei dann mit immer neuen Verträgen gekommen. Sie und ihr Mann Jürgen waren der Überzeugung: Ohne die Versicherung gibt es auch keinen Kredit. Danach gefragt betont die Hausbank, Kundinnen würden selbst darüber entscheiden, ob und welche Absicherung sie in Anspruch nehmen. Die Versicherung habe keinen Einfluss auf die Kreditentscheidung.

Waren Marina und ihr Mann vielleicht ein bisschen unbedarft? Vielleicht, sagen sie selbst. „Aber mit jedem Vertrag haben wir eigentlich gedacht, na ja, die machen das schon richtig“, sagt Marina A. „Das ist eine große Bank. Ne, also was soll da passieren?“ Ihr Anwalt ist da deutlicher. „Die Berater sind dafür ausgebildet, solchen Leuten immer und immer wieder einen neuen Kredit zu geben und immer und immer wieder umzuschulden statt sie abzuweisen“, sagt er. Die Geldhäuser wüssten genau, wie es um die finanzielle Grundlage der Schuldner stehe, das Girokonto laufe fast immer im eigenen Haus, jede Buchung könne der Berater sehen und wisse auch, wer wann in Rente gehe. „Entsprechend scheinheilig ist es, wenn sich die Banken wundern, dass die Menschen eine Rate im Rentenalter nicht mehr bezahlen können“, sagt Tiffe.

Das Rentenalter war auch für Jürgen und Marina A. der Wendepunkt. Weil sie mit weniger Einkommen die Raten nicht mehr zahlen konnten, bekamen sie Mahnungen, die sie verzweifelt mit Briefen beantworteten. Dann kam die Verbraucherzentrale, dann kam Tiffe. Der Anwalt half, die Kreditverträge zu widerrufen, die in seinen Augen fehlerhaft und intransparent waren. Die Bank sagt, die Verträge seien korrekt und transparent gewesen. „Ohne den ewigen Widerruf wäre ein Widerruf hier nicht möglich gewesen“, sagt er. Zu lange lag der letzte Vertragsabschluss bereits zurück.

Durch den Widerruf, so erzählt es Tiffe, hätten er und die Familie A. überhaupt erst eine richtige Chance vor Gericht gehabt, um eine einvernehmliche Lösung zu finden. Anfang 2022 klappt das. Familie A. und die Bank schließen einen Vergleich. 10 000 Euro müssen Jürgen und Marina A. jetzt noch zahlen, 100 Euro jeden Monat. Das geht.

Die beiden sagen, Tiffe hat sie gerettet.

Tiffe sagt, der ewige Widerruf hat das getan.